Kapitel dreiundvierzig

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Raphaels Sicht 

Seufzend rolle ich auf meinem Drehstuhl zum Fenster, öffne nach der langen Sitzung mit meinem bisherigen Lieblingspatienten – einem alten Herrn Mitte achtzig – das Fenster und kritzele mir dann am vollen Schreibtisch den neuen Termin mit ihm auf ein Post-it. Eigentlich hätte ich schon vor vierzig Minuten Feierabend gehabt, aber ich wollte ihn nicht abwimmeln, es ging einfach nicht, wenn er so herzzerreißend über seine verstorbene Frau spricht. Erst danach räume ich noch Zeug weg, das die Kinder heute verwüstet haben und verschaffe mir einen Überblick, wen ich morgen alles treffe – viel zu viele, so sehr mir das auch Spaß macht. Denn eigentlich möchte ich jetzt nur noch meine Freunde treffen, zu denen ich eh zu spät komme. Also schnappe ich mir mein Handy von der Steckdose und runzele die Stirn: Keiner der anderen vier hat sich bisher beschwert und auch keine verspätete Einkaufsliste geschickt, sondern nur Gabriel hat geschrieben.

Gabriel: hey, alles okay bei dir?

Gabriel: Kleiner? ^^

Gabriel: Raphael???

Gabriel: Ist etwas passiert oder warum bist du noch nicht da?

Gabriel: Habe ich etwas verpasst und wir essen nicht zusammen heute?

Raphael: Oh Shit!!!!

Raphael: Sorryyyyy

Raphael: Hab mich verquatscht, lebe aber noch ^^

Raphael: weiß nicht, ob ich es rechtzeitig heim schaffe, muss gleich bei Grün und Weiß sein

Gabriel: und da ziehst du dich nicht vorher um? ^^ Sicher, dass du dafür kein Hemd brauchst? ^^

Raphael: Lustig ^^

Raphael: Nur weil die beiden reich sind!

Gabriel: Ne, bei Hellblau und Rosa würde ich das nicht sagen, da würde ich dir zu Öko-Sachen raten :P

Raphael: :P :P :P

Raphael: Aber bei Orange und Bronze darf ich mich normal anziehen???

Gabriel: -_-

Raphael: Wolltest du dich nicht bald wieder mit Dunkelblau und Schwarz treffen? Ist spontan, aber vielleicht haben sie ja heute noch Zeit?

Gabriel: Dein Ernst? Du denkst echt, dass ich immer noch nicht alleine daheim sein kann? ^^

Raphael: Ja! Einerseits, weil du einfach nicht der Einzelgänger bist und andererseits, weil du das letzte Mal den Kühlschrank offen gelassen hast und das nächste Mal nicht gemerkt hast, dass der Trockner seit Stunden piept!

Gabriel: woher hätte ich wissen sollen, dass du einen Trockner hast? ^^ Ich dachte, das wäre der Feuermelder der Nachbarn oder so

Raphael: -_-

Raphael: Okay, ich gebe auf mit dir. Also, bitte fackele nichts ab und überschwemme nicht die Wohnung! Schaffst du es, heute Abend Essen zu bestellen? Oder du taust die Lasagne aus dem Kühlfach auf

Gabriel: Willst du mir noch sagen, auf wie viel Grad ich es stellen soll? ^^

Raphael: XD

Gabriel: Fahr vorsichtig, okay? Dann kommst du halt zu spät, deine Freunde kennen dich ;)

Und genau bei so etwas schaffe ich es nicht, länger mit ihm zu schreiben. Für ein paar Minuten kann ich vergessen, dass wir nicht mehr psychologistandoptimist und it'sjustafuckingpainting sind. Und dann macht Gabriel solche verdammten Andeutungen. Solche ich habe Gefühle für dich oder ich brauche dich-Andeutungen – klar, verdammter Mist, mir geht es genauso! Ich habe in den letzten beiden Wochen echt versucht, ihn nur als Übergangs-Mitbewohner wahrzunehmen, aber es funktioniert nicht. Gott, es war so dumm, ihn bei mir aufzunehmen. Zu denken, dass ich ihn nicht hängen lassen kann und zu meinen, dass ich mich besser fühle, wenn ich ihn aufnehme und nicht auf die Straße setze. Bullshit. Nachts kann ich kaum schlafen, wenn ich ihn noch herumscheppern oder malen höre und morgens hängt sein Geruch im Bad, weil er immer duscht, während ich uns Frühstück mache, jedenfalls wenn es seine Fähigkeiten, Brot und Aufstriche hinzustellen, übersteigt. Dabei wollte ich ihn aus meinem Leben streichen und versuchen, alles zu vergessen – genau das funktioniert leider so gut, dass ich nicht immer daran denke, was er getan hat. Aber sobald ich mir wieder in Erinnerung rufe, was er in dieser einen Nacht für ekelhafte Nachrichten geschickt hat ... Schluckend schiebe ich mein Handy in die Hosentasche (ohne ihm zu antworten!) und schnappe mir meine wichtigsten Sachen, ehe ich die Jeansjacke überziehe und hinter mir die Tür meines Therapiezimmers schließe. „Raph, du bist ja noch da!", meine Kollegin reißt ihre Tür auf und lächelt mich großmütterlich an. „Äh ja. Ich bin schon spät dran, habe mich verquatscht", gestehe ich und schmunzele Frau Ruter an, sie lacht und mustert mich, als wäre ich einer ihrer Patienten. „Du bist viel zu gut, Raph. Du übertreibst es, du brauchst doch auch mal Freizeit! All die anderen Tage machst du doch auch immer so lange, du wolltest heute extra früher heim. Keine Sorge, ich schaffe das schon, ich habe auch nur noch einen Termin", sie kommt auf mich zu, da ihr Termin scheinbar nicht auftaucht und ich seufze. „Ich weiß, ich weiß", stimme ich ihr zu und würde am liebsten etwas hinzufügen, verkneife es mir aber, dafür mag ich sie zu sehr und respektiere sie als Kollegin und vor allem als Vorgesetzte. Ich könnte auch früher gehen, wenn wir jetzt nicht noch ratschen würden. „Mach dir echt keinen Kopf, ich habe dir eh viel zu viele Patienten abgegeben, eigentlich solltest du weniger arbeiten. Entspanne dich ruhig, ich schmeiße dich – oh mein Gott, ich verstehe. Es liegt gar nicht an deinem Ehrgeiz, sondern du willst nicht heim", sie schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge, ich bin sicher, dass ich rot werde. „So ist es jetzt auch nicht ganz – ich liebe meine Wohnung", winke ich hastig ab, auch wenn Gabriel nicht hier ist und es dementsprechend nicht mitkriegt. „Aber deinen Mitbewohner oder Freund oder was auch immer auch und das macht es kompliziert?", Frau Ruter lächelt wissend und schaut mich stolz an. Shit. „Aha, da habe ich ins Schwarze getroffen! Ich wusste es! Dieses Bild, das in deinem Zimmer hängt, das ist von dem Kerl, oder? Du schaust es immer so an und ich glaube, das sollst du sein. Und das andere er?", bohrt sie weiter und kichert wie ein junges Mädchen, ich grinse dumm. „Ja – nein. Ich muss jetzt wirklich los!", ich lache verlegen und sie winkt mir zu. „Na los, verschwinde halt. Eine alte Lady wollte doch nur ein paar Details", sie schmunzelt und ich schüttele grinsend den Kopf, ehe ich das Weite suche und die Praxistür hinter mir ins Schloss fallen lasse. Ich mag sie, aber sie ist unfassbar neugierig – seit immer, schon an unserem ersten Tag hat sie mich durchlöchert. Was mich freut ist, dass sich nie etwas an ihren Fragen geändert hat, als ich ihr gesagt habe, dass ich schwul bin. Sie war weder netter noch distanzierter oder aufgesetzter, gar nichts – klar ist das ein Vorurteil, dass alte Menschen weniger tolerant sind, aber trotzdem hat sie mich damit beruhigt. Eigentlich wollte ich gar nicht mit ihr darüber reden – was hat das auch mit meinem Job zu tun – bis eine konservative Mutter mich angewidert angeschaut hat, nachdem ich mit ihrem Sohn alleine (was für ein Zufall bei solchen Gesprächen) in einem Raum war und sie an meinem Schlüsselbund zwischen den neun Anhängern einen mit der Pride-Flagge entdeckt hat. Seitdem hatte ich das ungute Gefühl, mich vielleicht doch rechtfertigen zu müssen oder wegen dieser Vorurteile doch nicht hier arbeiten zu können – Frau Ruter war beschämt von dem Verhalten der Frau und hat umso mehr darauf bestanden, dass ich bleibe. Zum Glück. Ich weiß nicht, was ich tun würde, hätte ihr nicht von ihr einen Praxisraum bekommen. Und ich gebe es ja zu, diese Zuflucht vor Gabriel und meinen empor kochenden Gefühlen für ihn.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt