Kapitel sechzig

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Raphaels Sicht 

„Habt ihr das gesehen? Meinen genialen Strike?", Marvin reißt die Arme hoch und dreht sich jubelnd zu uns herum, wobei er in seinem Freudenschrei auf dem glatten Boden ausrutscht und auf Jannis fällt, der als Nächster dran ist. Die beiden taumeln und fallen gemeinsam gegen die Kugelausgabe und das nur, weil Jannis sich noch rechtzeitig abstützt. Iasmin kichert und grinst ihren Freund an, als dieser sie gespielt böse anschaut und sich aufrappelt. „Also ich fand deinen Strike toll", Deli lächelt Marvin lieb an und wippt neben mir auf der Bank auf und ab. Mit ihren Beinen baumelt sie in der Luft herum und betrachtet ihre Füße, die in den hässlichen Bowling-Schuhen stecken. „Mittelmäßig, wenn wir ehrlich sind", Maze räuspert sich auf meiner anderen Seite und stützt sich auf der Bank ab, um hinter mir nach Delis Hand zu greifen. Lachend werfe ich mich zwischen die zwei und beobachte Jannis, der der Letzte ist. Bisher sieht es sehr gut für mich aus: Ganz hinten liegt Deli, weil ihr die Kugel so oft abgehauen ist; danach Maze, der durch Deli viel zu abgelenkt war; Eden und Iasmin sind quasi gleichauf und werfen sich gespannte Blicke zu; Marvin hat mit seinem letzten Strike nochmal aufgeholt und liegt jetzt knapp hinter Jannis und mir – wenn Jannis den Wurf versaut, habe ich gewonnen. „Schatz, wie spät ist es eigentlich? Wir hinken in unserem Zeitplan total nach, die anderen sind sofort da", Iasmin zwinkert mir zu und säuselt Jannis an, der wie geplant verwirrt ist und wütend daneben wirft. Ich lache und springe auf. „Sieg!", schreie ich lauthals und grinse Iasmin dankbar an, die ihren Freund lachend küsst und sich – nicht gerade ernst – entschuldigt, dass sie ihn so gefoppt hat. „Schiebung!", Jannis lacht und schüttelt Iasmin, die sich kreischend an ihm festhält, weil die beiden auf dem Boden rutschen. „Stell dich nicht so an, du musst nicht immer gewinnen", schimpft sie lächelnd mit ihm und streicht ihm durch die Haare, er zetert wegen seiner Frisur herum und haucht ihr aber ebenfalls einen Kuss auf die Lippen. „Bah, ich kotze gleich", Eden verdreht die Augen und verschränkt die Arme, ich lache: „Oh, weil ich gewonnen habe oder wegen der Paare?" „Beides!", ruft sie und schüttelt ihren Kopf, Marvin lacht und umarmt sie breit. „Ach, gönnen wir es ihnen doch alles. Die beiden Paare sind doch ganz niedlich", beschwichtigt er sie und schüttelt sie etwas, Eden knurrt und wirft sich in die Polster. „Danke", Maze schmunzelt und zieht Deli an sich, die ihn auf die Wange küsst und dann seine Hand nimmt, um aufzustehen. „Wieso dreht sich hier eigentlich gerade alles um die Paare und nicht um meinen Sieg?", ich ziehe die Augenbrauen hoch, Marvin schnaubt: „Ach komm, Raph, du gewinnst gerade immer. Du hast endlich wieder deine Glückssträhne." „Was für eine Strähne?", ich lache und lehne mich an den Tisch, während meine besten Freunde alle versuchen aufzustehen ohne auszurutschen. „Na ja, in letzter Zeit gewinnst total oft du. Und du hast jetzt sogar Glück in der Liebe", Marvin schiebt die Unterlippe vor und macht dann Knutschgeräusche, ich lache und boxe ihn gegen die Schulter. „Ha ha. Du hast genauso Glück, wenn nicht noch mehr Glück", rüge ich ihn und er nickt. Seine braunen Augen leuchten selig und er seufzt. „Schon. Mercedes ist der Hammer. Aber wenn ich mich nicht irre, haben du und Gab das Treffen hier angeleiert", raunt er mir zu, ich schaue ihn vorwurfsvoll an. „Psht! Offiziell war es deine und Mercedes' Idee! Außerdem liebst du die Idee!", zische ich ihm zu, er nickt wieder. „Natürlich liebe ich sie! Ich fände es auch schön, wenn ich Zeit mit meiner Freundin verbringen kann, ohne, dass wir uns zwischen den Gruppen entscheiden müssen. Gut, sie nimmt mich nie mit zu ihren Freunden, also ist schon entschieden, dass wir immer bei euch sind. Aber ich würde sie gerne auch mit ihren Freunden erleben, weißt du? Nicht nur mit Andy und Terra, auch mit den Bad Boys. Keine Ahnung, ich fände es einfach cool, wenn wir alle klarkämen und irgendwann eine große Familie sind. Das ist echt ein langer Weg, aber ... wenn Mercedes und ich irgendwann Kinder haben, möchte ich nicht, dass sie sich entscheiden müssen, sondern dass wir alle an einem großen Tisch sitzen", seufzt er verträumt und lächelt in die Ferne. Aber ich verstehe es; mehr noch, ich lächele sicher genauso dumm, denn Eden verzieht nur ihr Gesicht über uns und stapft voraus zu unseren Straßenschuhen. „Moment, irgendwer hat gerade Kinder gesagt!", Deli hüpft zu uns und hält sich kichernd an mir fest, als sie ausrutscht. Natürlich fange ich sie und schiebe sie sanft zu dem Teppichboden, auf dem wir uns umziehen können. „Ja, Marv plant gerade seine ganze Zukunft", eröffne ich ihr und Deli lächelt: „Oh, wie süß." „Aber unrealistisch", Maze schaut entschuldigend und klopft Marvin auf die Schulter, der ihm die lange Zunge rausstreckt und sich auf den Boden fallen lässt, um seine orangenen Chucks anzuziehen. „Ich finde es nicht unrealistisch. Das ist Liebe. Also nicht nur wir zwei oder die zwei, auch wir alle hier", Deli lächelt und schlingt die Arme um Maze, der breit grinst und rot wird. „Ja, vielleicht. Also zwischen uns ja, aber ob das mit den anderen etwas wird?", er seufzt und küsst Deli in die roten Haare, bevor sie sich ihre bunten Chucks anzieht. „Hey, wir haben gesagt, wir geben denen eine Chance", werfe ich ein und wechsele meine Schuhe im Stehen. „Sie hatten viele Chancen. Und wir haben sie nie geschlagen, Mann! Und wir waren beim Volksfest sehr nett", Jannis schnaubt und fährt sich durch die Haare und zieht seine Sonnenbrille ab, die er gleich eh nicht mehr braucht. „Ihr habt ihnen eine Runde ausgegeben. Jetzt sei doch nicht so. Du solltest noch mehr an zweite Chancen glauben", Iasmin knufft ihn in die Seite und steckt seine Brille in ihre Tasche, aus der sie die Kamera holt und sich umhängt. „Oh ja, geben wir ihnen die hundertste Chance! Damit wir alle eine große, glückliche Familie werden! Zwei Gruppen, die zu einer großen werden, wie romantisch! Wie traumhaft!", Eden quiekt sarkastisch und reißt die Arme theatralisch in die Höhe. Eigentlich würde ich lachen, Marvin prustet auch los, aber der Rest schweigt und räuspert sich. Eden hat ziemlich laut geplärrt und die anderen sind ziemlich leise reingekommen. Auch wenn sie noch am Eingang sind, starren sie alle in unsere Richtung und funkeln uns an – jedenfalls Pat, Felix und Gabriel. Schluckend nicke ich ihnen zu und schiebe nervös meine Hände in die Hosentaschen. Scheiße, ich weiß nicht einmal, wie Gabriel und ich uns jetzt verhalten sollen. „Wieso sind die Opfer beim Bowlen?", ist Pats Genervtheit nicht zu überhören, Gabriel zuckt mit den Schultern: „Opfer-Beschäftigungen?" Das wird es also. Heute sind wir Feinde. Maze und Deli werfen mir mitfühlende Blicke zu, ich straffe nur die Schultern und lächele das Paar neben mir aufgemuntert an, auch wenn mein Herz etwas langsamer als eben schlägt. Ich bin nicht sauer auf Gabriel, aber ich finde die Lösung nicht toll. Aber scheinbar ist sie die einzig mögliche, also lächele ich und warte, bis sie bei uns ankommen. „Babe! Ich habe dich so vermisst!", Marvin springt auf Mercedes los, die zwischen Andy und Terra steht – oder stand, denn jetzt wirbelt er sie herum und sie schlingt die Arme und Beine um ihn. Die beiden knutschen wild und lächeln beide glücklich, soweit man da etwas erkennen kann. Jannis neben mir verzieht das Gesicht und setzt dann wieder eine neutrale Miene auf, Iasmin hakt sich bei ihm ein und rückt näher an ihn, als Terra einen Schritt in unsere Richtung macht. „Wieso reden die nichts?", raunt Pat Gabriel laut zu, er zuckt wieder nur mit den Schultern. Felix verschränkt die Arme und tritt nah an Terra heran, die ihm etwas auf Italienisch zuflüstert. „Rede du doch, wenn du so anti eingestellt bist", Andy schaut Pat herausfordernd an und streift aber seine Hand. „Bist du jetzt auf deren Seite oder was?", knurrt er sie an, Andy verdreht die Augen. „Heute gibt es keine Seiten. Wir haben heute einfach nur alle Spaß", sie grinst verkniffen und stupst ihren Freund an. Pat nickt verbissen und legt seine Hand auf ihren Hintern, was auch Gabriel sofort bemerkt. Er wirft mir einen undurchdringbaren Blick zu und senkt dann den Blick auf den Boden. Dann breitet sich Stille aus, man hört nur das Knutschen von Marvin und Mercedes, die zwischendurch noch seufzen und stöhnen. „Unangenehm", murmelt Jannis leise neben mir und sieht mich an, als sollte ich etwas tun. Aber was soll ich tun? Ich kann Gabriel auf keinen Fall einbeziehen, also – „Hi, sorry für die Verspätung! Dieser Kerl hier meinte, er müsste so lange zocken", quietscht eine hohe weibliche Stimme. Steph. Gott sei Dank. Sie winkt locker aus dem Handgelenk, an dem sie eine kleine lilafarbene Tasche trägt; an der anderen Hand hat sie Levin, der neben ihr hertrottet und die Hand zum Gruß hebt. „Stimmt nicht. Du warst so lange im Bad", beschwert er sich und legt den Arm um Steph, als die beiden zwischen den beiden Fronten zum Stehen kommen. „Gar nicht! Ich habe außerdem nur später mit dem Schminken angefangen, weil ich mit Clara telefoniert habe. Und ich habe erst so spät den Videocall mit ihr machen können, weil jemand anders nicht aufgeräumt hat und ich helfen musste", Steph lacht und tippt ihrem Freund auf die Brust. „Sicher, dass es nicht an Clara und dir lag?", Felix grinst diabolisch, Steph schnappt gespielt nach Luft und Levin lacht: „Ha! Das sage ich auch immer! Da plappert eine länger als die andere, schrecklich die beiden." „Vorsicht, wenn du unsere Cousine beleidigst, beleidigst du auch uns", steigt auch Gabriel mit ein und schlägt mit Levin ein. Irritierend ist es schon, dass er mit ihm ein lockeres Gespräch führen kann und sogar damit die Stimmung auflockert. Aber ich schätze, daran muss ich mich einfach noch gewöhnen. „Wie könnte ich euch beleidigen? Ich bewundere euch echt, Mann", Levin lacht und deutet auf die drei dunklen Bad Boys, die alle in ihren Lederjacken stecken, obwohl es außerhalb der Halle noch über zwanzig Grad hat. „Du kannst ja auch nicht anders", Pat lacht dreckig und wendet seinen bösen Blick von uns ab – scheinbar ist das geschafft. Sofort kommen ausgerechnet Felix, Pat und Gabriel ins Gespräch mit Levin und laufen mit ihm los, wir anderen stehen noch herum. „Wow, haben die mir gerade meinen Bruder ausgespannt?", Marvin löst sich schnaufend von Mercedes und kräuselt die Lippen, sie lacht und stößt ihn in die Seite. „Kannst ihn dir ja zurückholen, Babe", ärgert sie ihn und schlingt die Arme um ihn. „Ätzend", Andy grinst Eden an, die missmutig schaut und dann ein wenig lächelt. „Die beiden?", sie deutet auf die Turteltauben und schüttelt sich, Terra lacht. Sie wirkt fröhlicher als damals, als sie kalt und verschlossen bei uns in der Küche saß. Jetzt trägt sie zwar dunklere Sachen und ist düster geschminkt, aber strahlt nach außen. „Klar! Mamma mia, du verpasst echt viel Schwärmerei von Mercedes", mischt Terra sich ein und schubst Mercedes lachend von Marvin weg. Eden atmet laut aus: „Zum Glück." „Hallo, du verpasst dafür unsere geniale Gegenwart", Andy wackelt mit den Augenbrauen und schaut unsicher, als Eden erst nicht reagiert. „Ich denke eher, ihr vermisst meine, aber damit kann ich auch leben", erwidert sie dann und boxt Andy freundschaftlich, die strahlt. Die beiden lächeln sich an und kurz ist es wie früher, dann ziehen die beiden los, dicht gefolgt von Terra und Mercedes, die herumalbern. „Na toll, jetzt vermisse ich Clara noch mehr", grummelt Steph und wirft einen neidischen Blick auf Eden und Andy – schon klar, damals waren sie quasi Konkurrentinnen. Eden und Andy gegen Clara und Steph. „Das ist jetzt aber nicht sehr erwachsen", ich stoße Steph in die Seite und sie kichert. „Ha ha, ich würde sie doch gar nicht mehr bekriegen wollen. Das war viel mehr Claras Sache und jetzt ist meine allerbeste Freundin irgendwo in Paris und hat mich mit euch allen alleingelassen", seufzt Steph und reibt sich die ihre kaffeebraunen Arme, die in dem schummrigen Licht der Halle besonders dunkel wirken. Ihr Blick wird ebenfalls dunkel und traurig, als niemand von uns sie wirklich trösten kann. „Hast du gerade Paris gesagt?", quiekt Deli dann und scheint aus dem Häuschen zu sein. „Ja?", Steph streicht sich ihre Haare hinters Ohr und wartet ab, doch Deli springt gleich zu ihr und plappert fröhlich los: „Oh, ich liebe Paris! Aber mit meiner Familie habe ich eher außerhalb gewohnt, obwohl wir auch ein Apartment in Paris haben! Direkt beim Louvre, ein Traum!" „Übertreibe nicht, wir mussten ewig laufen", wendet Iasmin lachend ein und folgt ihrer besten Freundin, die Steph über den letzten Trip in ihre Heimat zutextet. Es ist süß, wie sich alles fügt. „Gott, es läuft doch ganz gut", ich grinse die anderen zuversichtlich an, Marvin nickt. „Voll. Wegen Mercedes und Levin und Steph, finde ich", gibt er an und lacht, als Maze ihn schubst. „Quatsch, Deli redet doch gerade. Und tatsächlich macht Andy das auch ganz gut", merkt er an und grinst erleichtert, als wir sehen, wie Eden, Andy, Terra und Mercedes ein paar Meter vor uns auf einmal lossprinten, weil sie wahrscheinlich noch die Karts erreichen wollen. „Das mit Eden? Ja, finde ich auch", stimme ich ihm zu und rempele ihn mit der Schulter an, Maze lacht. „Na ja. Also eigentlich hat eher Iasmin sich diplomatisch verhalten. Oh, oder Terra", Jannis lacht bei seinem Kommentar und Marvins schockiertem Blick. „Es war ein Spaß, Mann", ich stupse Marvin an, der mir die Zunge herausstreckt: „Boah, ihr seid doof. Ich habe echt kurz einen Schock bekommen!" Maze, Jannis und ich schauen uns an, grinsen verschwörerisch und stimmen dann ein: „Ohhhh."

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt