Kapitel vierundfünfzig

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Raphaels Sicht 

Atemlos schaue ich nach vorne zu meinem Freund, der die Karaoke-Bühne betritt. Gabriel überspielt seine Nervosität für das Publikum, aber ich erkenne sie mehr als deutlich. Ansonsten ist seine Körperhaltung selbstbewusst und überheblich wie sonst, wie er sich durch die leuchtend blonden Locken fährt, die in dem blauen Licht glänzen und einen Kontrast zu seinen dunkelblauen Augen bilden, die mich in der Menge suchen. Als er mich wieder sieht, zumindest soweit ich das ohne Brille erkenne, grinst er schief und atmet tief durch, als er nach dem Mikrofon greift. „Oh fuck, kannst du das Handy runternehmen? Ich weiß, dass mich hier einige erkennen werden, aber so ist es nicht. Ich bin Gab, nicht Pat – mein Bruder würde sich für einen definitiv cooleren Song entscheiden und ihn auch besser singen, wenn auch nur etwas", unterhält er das Publikum vermeintlich lässig. Vor allem Frauen lachen laut auf und irgendetwas in mir zieht sich eifersüchtig zusammen. „Das hier ... ist für jemanden, der mir sehr viel bedeutet. Als ich mir überlegt habe, es hier zu singen für ihn, hatten wir einen ziemlich miesen Streit. Okay, also eigentlich habe ich große Scheiße gebaut und gedacht, dass wir das niemals wieder hinkriegen. Wie es aussieht, hat dieser jemand mir aber verziehen und trotzdem baue ich dauernd neue Scheiße. Deswegen passt der Song ganz gut, hoffe ich. Und irgendwie nicht, weil der Text echt mies ist, aber auch mal gut zu uns gepasst hat. Fuck, ich mache das echt nur, weil ich weiß, dass du diese Band liebst. Und es mir zu kitschig gewesen wäre, so etwas wie Something just like this oder What are you waiting for zu nehmen", wendet Gabriel sich direkt an mich und schaut mich über all die Köpfe hinweg an. Manche versuchen seinem Blick zu folgen, aber vermutlich kommt niemand darauf, dass ich gemeint sein könnte. Der Kerl, der da einfach nur in Jeansjacke, gelben Chucks und mit einem Bier an den Lippen dasitzt – nein, niemals. Sicher gehen sie davon aus, dass es sich um diese ach so heiße Bedienung handelt, die in der Nähe am Tresen lehnt und Gabriel mit Blicken anschmachtet. Und doch muss ich strahlen und verschütte beinahe das Bier bei seinen Worten. Wegen dieser Anspielung und wegen der Songs, die er nie vergessen hat. Scheiße, vielleicht war es ihm doch auch immer ernst. Irgendwo. Tief in ihm drinnen. Oder sehe ich es etwas zu romantisch? Definitiv nicht, denn ich erkenne sofort die ersten Töne des Songs. Payphone von Maroon 5. Und Scheiße er hat recht, ich liebe diese Band– unter anderem jedenfalls. Und ich liebe es verdammt nochmal, wie dunkel er es singt, obwohl die Melodie so hell ist. Und wie rau Gabriel klingt, weil er nervös ist. Andere werden es sicher als heiße Masche abtun, aber ich merke, wie seine Hände zittern und wie er die andere Hand in der Tasche seiner Lederjacke vergräbt, weil er nicht weiß, wohin mit sich. Er arbeitet sich immer weiter in den Strophen, schaut aber nur mich an. Es ist, als würde die Welt um uns stillstehen und es nur uns geben. Und seine Stimme, die wirklich so gut klingt wie die seines Zwillings: „Yeah, I, I know it′s hard to remember, the people we used to be, it's even harder to picture that you're not here next to me ..." Bei dem Text schüttele ich grinsend den Kopf, auch wenn ich gleichzeitig schmerzhaft an die Zeit denke, in der es wirklich so war. In der es so aussah, als wäre zwischen uns nichts mehr zu retten. „You say it′s too late to make it – but is it too late to try?
And in our time that you wasted, all of our bridges burned down ..."

Je weiter Gabriel kommt, desto weniger halte ich es aus und stehe auf, um zu ihm zu kommen. Als er mich erst wieder entdeckt, als ich ganz vorne an der Bühne stehe, strahlt er erleichtert. Es ist dieses seltene, glückliche Gabriel-Grinsen, von dem ich nicht gedacht hätte, es heute zu sehen. Vor allem, weil ich nachgedacht habe. Wer weiß, vielleicht würde er abkotzen, wenn ich jetzt zu ihm hochsteige und bei ihm bin, weil er sich outen würde. Müsste. Meinetwegen. Doch genau das hat er vor, Gabriel hält keuchend im Song inne und dann reicht er mir schluckend seine Hand. Lächelnd greife ich nach seinen warmen Fingern mit den vielen Ringen und den Prellungen vom Boxen; er zieht mich nach oben und sieht mir tief in die Augen. „If "happy ever after" did exist, I would still be holding you like this", ergänze ich unsicher den Text, als er selbst nicht singt. Gabriel grinst breit und kommt mir näher, während er das Mikro zwischen uns hält und selber weitermacht.: „All those fairy tales are full of it ... One more stupid love song, I′ll be sick, oh ..." Auffordernd sieht er mich an und dreht sich langsam zum Publikum, das uns anstarrt. Manche lächeln, andere sehen aus, als würden sie mich am liebsten erwürgen wollen. Doch statt sich davon verunsichern zu lassen, macht Gabriel eine größere Show aus unserem Auftritt – eine größere als aus seinem eigenen. Fassungslos verhaspele ich mich bei den nächsten Wörtern, bis ich mich zusammenreiße und daran denke, wie entspannt ich war, als ich hier mit Maze, Jannis, Marvin und Eden gesungen habe. „You turned your back on tomorrow, 'cause you forgot yesterday",  spiele ich mit rasendem Herzen die Show mit und sehe Gabriel vorwurfsvoll an, er schmunzelt betreten und nickt; „I gave you my love to borrow, but you just gave it away. You can′t expect me to be fine, I don't expect you to care ..." So, wie wir uns anschauen, ist es vermutlich wirklich filmreif. Unter uns ist alles still, irgendwer seufzt ergriffen auf und Gabriel verdreht nur die Augen über die Leute um uns herum, während er mir näherkommt. Seine Stirn ruht fast an meiner, doch er zieht sich wieder zurück und fasst sich schuldbewusst an die Brust, ich grinse über ihn, auch wenn der Song wirklich die Wahrheit über uns preisgibt. Aber wenn das unser einziger Weg ist, damit umzugehen, dann mag ich ihn. „I′ve wasted my nights", beginnt Gabriel schon den letzten Refrain und sieht mich zweideutig an, ich lache leise auf und lehne mich vor zum Mikro: „You turned out the lights." „Now I′m paralyzed", er geht gespielt in die Knie, ich lache und ziehe ihn an der Hand nach oben zu mir, während sein dunkler Blick nur an mir hängt: „Still stuck in that time." „When we called it love", nuschelt er ins Mikro und blinzelt, als er das L-Wort sagt, ich lächele und ende atemlos mit dem Song: „But even the sun sets in paradise ..." Um uns herum geht ein tosender Applaus los und ein allgemeines, rhythmisches Klatschen, das wohl eine Zugabe oder einen Kuss einfordert. Fragend sehe ich Gabriel an, doch er schüttelt den Kopf und deutet mir nur an, nach draußen zu rennen. Interessanter Abgang. Lachend nicke ich, stelle schnell das Mikrofon zurück und springe ihm dann hinterher von der Bühne nach unten und renne hinter ihm mit nach draußen. Hier ist nur unser Atem zu hören und dann die wilden Rufe von drinnen, während Gabriel nach meiner Hand greift und mich mit auf die andere Straßenseite zu einem Bus zieht, der gerade kommt. „Warte, hast du schon bezahlt?", frage ich ihn außer Atem, mein Freund lacht dunkel und nickt, als er mich nach drinnen schiebt. „Klar. Schon beim Bestellen vom letzten Bier. Was meinst du, warum ich sonst direkt an der Theke bei unserer Bedingung war?", schmunzelt er und stößt mich an, als wir uns auf die Sitze ganz hinten fallen lassen. „Nun, da fällt mir einiges ein", brumme ich und drehe mich zu ihm, er runzelt kurz verwirrt die Stirn. „Auch nach dem Song noch?", hakt er nach, ich schüttele lachend den Kopf: „Oh man, nein. Deine Unsicherheit ist echt ... Shit, jetzt schaue nicht so. Keine Sorge, sie ist heiß. Du bist heiß und unglaublich, Gabriel. Das ... das war krass und das hättest du nicht tun müssen ..." „Doch, musste ich", er schluckt und verschränkt unsere Finger zwischen unseren Beinen, ich lächele ihn an und lehne mich an ihn. Auch wenn der Bus leer ist, legt er den Arm nicht um mich, sondern streift nur über meine Finger. Im Einvernehmen schweigen wir, bis wir daheim sind.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt