Kapitel achtzehn

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Raphaels Sicht 

Gabriel. Na klar. Die ganze Zeit habe ich nicht daran gedacht, dass es nur englisch ausgesprochene Spitznamen sein werden. Pat und Gab – Patrick (?) und Gabriel. Shit, ich hätte es viel früher wissen können. Andererseits würden wir dann nicht hier stehen und ich bin froh, dass ich es erst jetzt weiß. Dass ich mich zweimal in ihn verliebt habe. Einmal in Braun, einmal in Gab. Dass ich mich in Gabriel verliebt habe. Doch seine Augen glänzen nicht auch vor Freude, sondern sie erdolchen mich gerade eher oder scheinen zu überlegen, wie man mich am besten verschwinden lassen kann, wenn er selbst jetzt schon nicht mehr fliehen kann, weil ich ihn entdeckt habe. Bevor ich etwas sagen kann, dreht er sich um und stürmt nach draußen. Die Glastür fällt klirrend ins Schloss und kurz schauen alle Besucher auf, ehe sie sich wieder den Bildern zuwenden. Will er, dass ich ihm nachgehe? Aber selbst wenn nicht, kann auch ich nicht anders. Zum ersten Mal in meinem Leben engt mich ein Museum oder ein Kino ein. Ich habe das ungute Gefühl, dass alle mich anstarren und wissen, dass Gabriel gerade meinetwegen nach draußen gestürmt ist. Doch natürlich ist das Quatsch, jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass mich keiner mitleidig anschaut. Trotzdem quietschen meine Converse-Sneaker auf dem glatten Boden, als ich ebenfalls zur Tür eile und mich nach draußen an die Herbstluft schiebe. Der kalte, aber sonnige Wind wirbelt meine Jacke auf und sorgt für eine Gänsehaut auf meinem Körper; vielleicht aber auch die letzten zwei Minuten. Schluckend blicke ich mich um und entdecke Gabriel zwischen meinem und scheinbar seinem Motorrad. Er hat die Augen geschlossen und fährt sich durch die blonden Locken, seinen Kopf legt er in den Nacken und sein ganzer Körper scheint angespannt. Vorsichtig schlendere ich zu ihm rüber und schleife meine Schuhe extra über den Boden, um mich bemerkbar zu machen. Als ich an dem Parkplatz ankomme, mustert er mich verkniffen. Shit, das ist heiß, schießt es mir unkontrolliert durch den Kopf, wie er dasteht. Genauso selbstbewusst und unter Storm wie gestern nach unserem Kuss, nur mit einem tiefen, bohrenden Blick, der mich durchdringt. Es ist, als könnte er mich lesen. Die Erkenntnis scheint ihn zu erschüttern, denn er ballt seine Hände zu Fäusten und beißt die Zähne zusammen. Seine Stirn legt sich in Falten und ein wenig erkenne ich noch die Farbflecken von seinem Teufel-Kostüm gestern. „Gabriel", höre ich mich heiser sagen. Er betrachtet mich nur und nickt dann langsam: „Raphael." Kurz schleicht sich auf unsere beiden Münder ein Grinsen, nur ebbt seines schneller wieder ab. Wie geht es dir damit? Was hast du denn erwartet? Kann ich dir helfen? Lauter Fragen geistern durch mein benebeltes Hirn, aber ich beiße mir auf die Lippen und schweige ihn nur hilflos an. Es ist hart zu sehen, wie er mit sich kämpft. Ein Kampf, bei dem ich ihm nicht helfen kann, das weiß ich inzwischen. Vor allem weiß ich, dass er aggressiv reagieren wird. Und genau das ist auch wieder so verrückt! Wie kann ich diesen Typen so unfassbar gut kennen, keines seiner Worte kommt mir unbekannt vor, jedes seiner Bilder erreicht mich und ich sehe ihn darin, aber wie verdammt nochmal kann es dann sein, dass er mir noch nie so fremd war? Nicht einmal in der Bar, als wir uns nach Jahren wiedergesehen haben. Aber wer ist er gerade? Braun oder Gab? Zwischen den beiden liegen Welten, jedenfalls habe ich das bis gestern geglaubt. Der Gedanke, dass sie dieselbe Person sind, ist noch immer verrückt. Aber es ergibt so viel mehr Sinn. Das Trio, Andy mit ihren grauen Augen, ihrem Kriminologie-Studium beim BKA, Andy und Pat, Felix und welches Mädchen auch immer er gestern gefunden hat. Und Gab, der hier steht und die Finger auf die Schläfen presst und damit fertig werden muss, dass er mich gestern geküsst hat und wir jetzt ein Date haben. Er und ein Mann. Etwas, von dem Pat vermutlich nicht erfahren darf; etwas, das gestern mehr als deutlich war und dass Braun – Gabriel – auch immer wieder von seinem Bruder Dunkelblau geschrieben hat. Immerhin ist mir jetzt mehr als klar, warum Pat die Farbe hat, auch bei Felix sehe ich definitiv Schwarz – mit seinen Haaren, seiner Kleidung und seinem dunklen, fast traurigen und gleichzeitig düsteren Vibe. Nur Braun erschließt sich mir nicht gänzlich. „Was?", blafft Gabriel mich auf einmal ein. Sein Ton ist hart und schneidend. Er stützt sich an seinem Motorrad ab und rammt die Fersen seiner dunklen Chucks in den feuchten Asphalt. Als Antwort schüttele ich nur langsam den Kopf und mache bedacht langsam einen Schritt auf ihn zu wie auf ein wildes Tier, das jede Sekunde um sich schlägt. Ich glaube, das hat er auch vor. Zumal mir jetzt auch klar ist, dass der Kerl ein verdammtes Boxtalent ist. Etwas, das er im Chat als Kampfsport mit seinem Bruder beschrieben hat – vielleicht wäre ich aber auch zu schnell auf die Boxing Twins gekommen. „Nichts, Gabriel, darf ich dich –", setze ich an. Lieber vollende ich den Satz nicht. Sagen möchte ich eigentlich umarmen, auch wenn es mir lieber wäre, ich könnte ihn küssen oder fest an mich ziehen. Am liebsten würde ich mich mit ihm ein Wochenende lang einfach nur in meinem Zimmer einschließen, nicht mal zum Rummachen – jedenfalls nicht nur –, sondern auch zum Reden. Um ihm zu sagen, dass es in Ordnung ist. Dass er nicht zwingend hetero sein muss, nur, weil er und sein Bruder jahrelang danach gelebt haben. Dass er diese Seite, die er beim Schreiben gezeigt hat, nicht unterdrücken muss und dass sie normal ist. Dass er Pat damit nie angelogen hat, weil es mehr als offensichtlich ist, dass Gabriel sich selbst nicht einmal seiner Neigung bewusst war. Und dass seine Gefühle nichts an der Beziehung zu Pat oder Felix ändern und ihn auch nicht weniger männlich erscheinen lassen. „Meinetwegen", erwidert er mit rauer Stimme. Er zieht scharf die Luft ein, als sich unsere Blicke begegnen. Wenigstens ein bisschen glaube ich, dass er meine Blick verstanden hat. Was ich ihm gedanklich geschickt habe, was ich zum Ausdruck bringen wollte, aber wofür es noch zu frisch ist, es auszusprechen. „Okay", flüstere ich mehr zu mir selbst als zu ihm. Gabriel macht nichts, er wartet wie auf der Lauer ab, wie ich nah an ihn herantrete und langsam meine Arme ausbreite. Gerade streift mein Gesicht seinen Hals und seine Fingerspitzen berühren meinen Rücken, da schreckt er zurück. Er schubst mich instinktiv von sich, sodass ich gegen mein Motorrad falle und uns gerade noch halten kann, während Gabriel selbst ans vibrierende Telefon geht, als wäre gerade nichts gewesen. „Pat", begrüßt er ihn angespannt. Im Ernst? Pat, der die Nacht mit Andy verbracht hat? Verwundert suche ich den Blickkontakt mit Gabriel, doch er dreht mir hastig den Rücken zu und antwortet knapp angebunden seinem Zwilling: „... ja, ich bin unterwegs. ... Nein ... Frag ihn doch ... Was? ... Beruhige dich mal ... Ja, ich komme ... Ich hole ihn ab." Wen? Felix? Aber wozu? Was ist los?, frage ich ihn stumm, als er sein Smartphone energisch in seine Jackentasche schiebt. Ohne noch ein Wort, einen weiteren ausdruckslosen Blick, zu verlieren, zieht er sich den Helm über und startet den aufkreischenden Motor, bis er vom Platz rast.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt