Raphaels Sicht
Wir haben es tatsächlich geschafft. „Ich bin unfassbar stolz auf euch!", schreit Marvin mir ins Ohr und umarmt mich von hinten, ich lache und stolpere mit ihm zurück. „Danke, danke, ich bin auch stolz auf mich", Jannis lacht und zeigt eines der ehrlichsten Strahlen, das er je hatte. Alles an ihm funkelt, seine hellen Zähne, seine leuchtenden Augen, sogar seine Haare glitzern von dem vielen Gel heute Morgen. „Oh ja. Als ob wir nie wieder hier sein werden", Maze schüttelt seine langen braunen Haare, die ihm wir heute während der ganzen Veranstaltung zu einem Dutt binden wollten, aber er hat darauf bestanden, dass sie nicht lang genug wären. „Das ist echt krass. Wir sind frei und unabhängig und können echt einfach durchstarten", ich lache und starre ungläubig auf das Zeugnis in meiner Hand. Mein Türöffner für eine eigene Praxis, für Fortbildungen, für alles! Ab jetzt steht keine Uni mehr an, sondern ich kann Leuten helfen! Offiziell! „Du bist unabhängig, wir nicht", Jannis verzieht das Gesicht und legt den Arm um mich, ich lehne mich an ihn und betrachte das wilde Geschehen von Studenten, die alle über die Wiese rennen, sich gegenseitig umarmen und trinken, weil sie es geschafft haben. „Ihr schafft das, erst mal bauen wir eh meinen Shop auf", lacht Marvin glücklich und zerquetscht Maze, der nach Luft schnappt und strahlt. „Stimmt. Bist du fein damit? Also, dass du hier nicht so stehst?", wende ich mich sanft an unseren Größten, der nur grinst und dann mit den Schultern zuckt. „Jo, denke schon. Ich bin vor allem glücklich und freue mich für euch. Außerdem hat Mercedes auch nicht studiert, sie hat es ja auch abgebrochen und trotzdem eine tolle Karriere mit ihrer Werkstatt", antwortet er dann mit einem seligen Grinsen; Jannis und Maze lachen und drücken ihn ebenfalls fest, sodass wir uns zu viert in den Armen liegen. Das hier ist noch kurz nur unser Moment, bis uns jemand auf die Schultern tippt. Steph steht strahlend in einem lilafarbenen knappen Kleid mit teurer Handtasche da und quiekt, als wir sie auch umarmen. Hinter ihr lächelt Levin stolz und umarmt seinen kleinen Bruder, auch wenn beide heute keinen Ehrentag haben. „Glückwunsch! Zeig mal, wie hast du abgeschnitten?", Jannis reißt Steph das Zeugnis aus der Hand und überfliegt es, um schadenfroh zu grinsen. „Ha! Wir waren besser!", ruft er laut und reckt spaßeshalber die Faust, Steph schlägt ihn und schnappt sich dafür Maze' Zeugnis, der auch aufmerksam die Zeugnisse vergleicht und Steph anerkennend anlächelt. „Na, wo sind eure Mädels eigentlich alle?", wendet Levin sich an Marvin und mich, die nichts mit BWL und dem anderen Zeug zu tun haben. „Keine Ahnung, die sollten gleich da sein, Eden und Iasmin nehmen gerade ihre Bescheinigungen an der Kunst- und Filmhochschule an", ich lächele breit – einmal, weil ich selbst so unfassbar glücklich bin und andererseits auch, weil meine Freunde alle bestanden haben und ebenfalls erleichtert sind. Das Traurige ist, dass die anderen bisher alle besser als ich waren, obwohl ich bis vor zwei Monaten noch mit Abstand die besten Arbeiten hatte, aber dann kam meine Phase, wie wir sie nennen. Die Gabriel-Phase, in der ich nur Netflix geschaut habe und keine Motivation hatte, zu lernen; beinahe hätte ich sogar meinen Insta-Account gelöscht, weil mir keine psychologischen und philosophischen Sprüche mehr eingefallen sind, vor allem keine optimistischen, was den Grundzügen meines Accounts nicht mehr entsprochen hätte. „Uhhh, das ist geil. Das hätte ich auch machen können", denkt Levin laut, ich muss ein Lachen unterdrücken. „Ach, der Lehrer, der meint, er könnte alles?", ich stoße ihn an und er lacht dunkel, genau wie Marvin, der den Arm um ihn legt. Am Anfang, nach der Gabriel-Phase, war es komisch, die Brüder so eng zu sehen, aber schlussendlich ist das Unsinn. Schon alleine, weil ich die beiden schon immer als Brüder erlebt habe und sie (unter anderem) die wichtigeren Menschen in meinem Leben sind – warum also habe ich überhaupt dabei an Gabriel und Pat denken müssen? Beinahe seufze ich wegen meiner Erinnerung, aber gerade noch ermahne ich mich selbst, dass das hier der beste Tag seit Langem ist. Wir sind frei, wir sind wild und wir sind unbesiegbar, zumindest für heute. Ich grinse schnell wieder die Brüder an, die gar nicht bemerkt haben, dass ich abgelenkt war. „He, ist das dahinten Bowle?"; Marvin zeigt mit dem Finger auf einen Tisch, um den herum sich lauter Studenten tummeln. Oder ehemalige Studenten, schließlich sind wir es ab dem heutigen Tag auch nicht mehr. Gott, wir werden echt nie wieder zur Uni gehen! „Wow, das ist kaum peinlich", ich haue Marvin auf die Finger, er lacht und will mich gerade am Arm mitziehen, als wir jemanden rufen hören. Sofort fahren wir herum zu Maze, Jannis und Steph, die ebenfalls in Richtung Parkplatz schauen. Auf uns stürmen drei Mädels zu, unsere Mädels. Eden rennt am schnellsten, aber sie hat natürlich auch Chucks und einen Hosenanzug an, zu dem wir sie auch zwingen mussten. Ihre roten Haare wehen im Wind und ihre Augen leuchten ergriffen (etwas, das man eigentlich fotografieren müsste!) und ihre Beine fliegen förmlich über die Erde, bevor sie Marvin und mir in die Arme springt. „Ich habe bestanden! Ich habe wirklich bestanden! Ich kann's! Ich werde Regisseurin! Ich bin offiziell zugelassen!", schreit sie uns ins Ohr, ich lache und befreie sie aus Marvins Fängen, um sie zuerst herumzuwirbeln. Eden lacht ausgelassen und wuschelt mir durch die schwarzen Locken, ehe sie mich tätschelt und sich von Marvin in die Luft werfen lässt, was etwas sehr halsbrecherisch aussieht, wo er sie gerade noch fängt. „Wir wussten, dass du es schaffst", ich schüttele den Kopf über sie und bekomme ihr Zeugnis unter die Nase gehalten, ehe sie sich meins schnappt. „Oh mein Gott! Du hast ja echt etwas gerissen, ich dachte, es wäre noch schlechter", sie boxt mich gegen den Arm und ich funkele sie gespielt an, während Marvin uns beide umarmt und rüber zu den anderen schiebt, wo Jannis und Iasmin sich knutschend in den Armen liegen, beide halten ihre Zeugnisse hoch und lachen ausgelassen. Natürlich sind die zwei die Hübschesten aus der ganzen Runde und geben ein perfektes Paar ab – er in diesem genialen Anzug mit dem aufgeknöpften Hemd, aber Chucks und einer Sonnenbrille im Haar und sie im weißen Hosenanzug, ein paar minimalistischen Ringen und wahnsinnig hohen Highheels, in denen sie ihn fast überragt. Neben ihnen drückt Deli Maze einen stolzen Kuss auf die Lippen und hüpft dann wie ein Flummi zu mir rüber. „Zeig, zeig, zeig! Und du auch!", sie zeigt auf Eden, die lacht. „Du hast mein Zeugnis schon auf der ganzen Fahrt hierher studiert", schmunzelt sie und ich lache über die beiden. Deli zieht eine Schnute und schnappt sich dann mein Zeugnis, um zu quietschen und herumzuhüpfen. „Das ist so cool! So cool! Ich freue mich so für euch alle!", gluckst sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange, jedenfalls als sie sich auf die Zehenspitzen stellt und ihr kleines gelb-grünes Kleid ihr fast hochfliegt. „Oh ja, ich könnte euch auch knutschen", lacht Marvin und schlägt mit Deli ein. Dafür, dass sie noch anderthalb Jahre an der Uni braucht, ist sie wahnsinnig gut gelaunt und umarmt auch noch einmal Eden fest, die total überfordert schaut und davonläuft, als Marvin erst mir einen nassen Kuss auf die Wange drückt und dann Eden über den halben Campus jagt. „Ich glaube, Jannis und Iasmin schämen sich für euch drei Kinder", Maze stößt mich in die Seite und lacht leise, ich sehe ihn vorwurfsvoll an. „Du meinst Ed, Marv und mich?", ich klimpere lachend mit den Wimpern und er nickt. „Jep, die drei ohne Partner halt", zieht er mich auf, ich strecke ihm die Zunge heraus. „Lass das bloß Marvin nicht hören, wo seine Mercedes die Feier ihrer besten Freundin vorzieht, statt bei uns zu sein", seufze ich und Maze überlegt für einen Moment kurz. „Oh, stimmt. Erinnere mich bloß nicht daran! Ich hätte nie gedacht, dass Eden und Andy nicht zusammen ihren Abschluss feiern würden. Es ist, als wäre ich daran schuld", murmelt er bedrückt, ich schubse ihn an. „Ne, bist du nicht. Und jetzt vergiss es, wir sind heute hier, um zu feiern", ich lache und albere noch kurz mit Maze herum, bis Deli, Steph und Levin zu uns rüberkommen und wir gemeinsam beschließen, Jannis und Iasmin beim Knutschen zu erschrecken. Iasmin kreischt immerhin wirklich auf, Jannis schubst uns nur und lacht gut gelaunt. „Ihr seid so unfassbar dämlich", brummt unser bester Freund und sieht sich suchend um. „Hm, was ist los?", Iasmin stupst ihn in die Seite, Jannis flucht. „Wo sind jetzt Eden und Marvin? Wir müssen gleich los zum Essen", regt er sich auf, Iasmin kichert und schaut empört: „Dein Ernst? Du hattest während unseres Kusses die Zeit im Blick, du Arsch?" Er lacht und legt den Arm um sie, sie schüttelt nur grinsend den Kopf über ihn und löst sich dann von ihm, um noch Maze und mich zu umarmen, was sie bisher vergessen hat. Grinsend erwidere ich die Umarmung und wir beglückwünschen uns kurz, bis sie uns ihr Zeugnis zum Halten gibt, weil sie aus ihrer Handtasche ihre Kamera zaubert. „So, bevor wir ins Restaurant fahren, müssen wir aber noch Fotos machen! Tolle Fotos", sie lächelt überzeugend wie immer und schiebt uns auf ein sonniges Plätzchen, bei dem scheinbar weder der Schatten noch irgendwelche Reflexionen stören, dann winkt sie uns noch etwas näher zusammen und will gerade ein Foto schießen, als Eden und Marvin von hinten gegen uns laufen und alles durcheinanderbringen. „Hallo?!", Iasmin schüttelt den Kopf und schaut streng, Marvin hebt entschuldigend die Hände und quetscht sich zwischen uns in die letzte Reihe, Eden klappt den Mund auf: „He, ich wollte auch filmen!" „Kannst du ja später", zischt Jannis ihr zu und schiebt sie in die Reihe vor uns neben Deli und Steph, die strahlen. „Wieso stehe ich neben den Mädels?", murrt Eden leise und Deli kichert und flüstert ihr etwas zu, sodass beide lachen und uns schadenfroh ansehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen schauen wir Männer uns an, als Iasmin gerade abdrückt. Das Klicken ist nicht zu überhören, vor allem mit Iasmins Beschwerde.
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Repressed Colours (Band 1)
RomantizmBunt und düster. Warm und kalt. Frei und wild. Treu und loyal. Raphael und Gabriel. (Band 1) Unterschiedlicher könnten ihre Welten nicht sein und doch vermischen sie sich: online und im realen Leben. Das bunte Quintett der besten Freunde Raphael, Ma...