Kapitel zwei

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Raphaels Sicht 

Eigentlich liebe ich es, unter Menschen zu sein, aber das sind selbst mir zu viele. Das Gedränge aus dem Hauptgebäude der Uni ist unfassbar. Es ist, als müsste ich gar nicht mehr laufen, sondern könnte mich von dem Strom der Masse nach draußen auf den Hof schieben lassen. Umso schneller ergreife ich die Flucht, als mir nochmal eine Kommilitonin ihren nackten Ellbogen in die Seite rammt. „He, kannst du –", will ich sie darauf hinweisen, doch sie stürmt bereits um die Ecke und verschwindet mit ihren flatternden brünetten Haaren um die Kurve. Seufzend setze auch ich mich in Bewegung und kämpfe mich an den Leuten vorbei zu den Tischen auf dem Vorplatz. Falls die anderen nicht schon da sind, ist mit Sicherheit kein einziger Platz mehr frei, dafür hat uns mein Dozent viel zu spät rausgelassen. „Raph! Hier!" Verwirrt blicke ich mich um und brauche eine Sekunde, bis ich Jannis winken sehe, zumal er das nicht gerade auffällig tut. Grinsend zurre ich meinen Rucksack fest, drücke meine Bücher näher an mich und quetsche mich zwischen den Stühlen, lärmenden Studenten und leeren Kaffeebechern hindurch, bis ich den riesigen Tisch erreiche, den Jannis und Maze reserviert haben. „Hi, wow, dein Shirt ist ja mal cool", begrüßt mich Steph, die ich bis eben nicht registriert habe. Sie lächelt mich freundlich an und kämmt sich ihre dunklen Haare zurück, um ihr hübsches braungebranntes Gesicht noch mehr zu betonen, was fast überflüssig ist: Ihr Teint ist bereits so dunkel durch ihre brasilianischen Wurzeln, dass ihre dunklen Augen und das strahlende weiße Lächeln nicht zu übersehen sind. „Danke", freue ich mich wirklich über ihr Kompliment, auch wenn ich mich wundere, dass sie auf T-Shirts in Regenbogenfarben steht. Und allgemein, dass sie an unserem Tisch sitzt. „Ich finde es eher gewagt", kommentiert Jannis und setzt sich seine Sonnenbrille auf. „Gewagt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Eher ... auffällig oder direkt. Ich meine, sonst ist es gar nicht so auffällig, dass –", Maze hält inne, als Steph aufquiekt. Perplex mustern wir sie, wie sie ihre Tasche schultert und wegtänzelt. Erst als sie jemanden umarmt, wird mir klar, wen sie da begrüßt. Marvin, ihren zukünftigen Schwager. „Was tut er hier?", ich lasse mich neben Maze fallen und beobachte das Geschehen. Mein fragender Gesichtsausdruck spiegelt sich in Jannis' braunen Sonnenbrillengläsern wider, mit denen er uns ausdruckslos anschaut. „Wer? Levin?", brummt Jannis und macht sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. „Nein, der arbeitet doch schon am Gymnasium", Maze schaut jetzt auch verwirrt. „Marvin! Nicht Levin", kläre ich das Missverständnis um die Brüder auf und senke die Stimme, als Marvin mit Steph im Schlepptau ankommt. „Was ist mit meinem Freund?", hat Steph trotzdem unsere Debatte gehört, Maze schüttelt den Kopf: „Nichts." „Ja, genau, was ist mit meinem Bruder? Tut nicht so geheimnisvoll", lässt Marvin nicht locker, ich muss lachen. „Nichts! Maze hat absolut recht. Wir haben uns gefragt, was du hier tust! Solltest du nicht in dem Restaurant sein?", vorsichtig sehe ich ihn an. Marvin lässt sich nur stöhnend auf die Bank fallen und zerquetscht beinahe Stephs teure Tasche. „Ich hatte aber Sehnsucht nach euch. Und sogar nach der Uni, stellt euch das vor", mault er herum und stützt den Kopf in die Hände. Sein Blick ist wirklich ein wenig bedrückt. „Okay, Raph, tröste du ihn", weist Jannis mich an und wendet sich Maze zu, woraufhin die beiden anfangen, über den ersten Unitag zu reden. Selbst Steph entflieht der Gefahr, sich um Marvin zu kümmern. Kaum schnappe ich die Worte BWL und VWL auf, lasse ich die anderen drei wirklich lieber alleine fachsimpeln und wende mich Marvin zu. „Marv, du hast doch eine Ausbildung dort. Oder haben sie dich ...?", ich räuspere mich und sehe ihn mitfühlend an. Als wir heute Morgen alle fünf gleichzeitig die Wohnung verlassen haben, wollte er jedenfalls noch dorthin gehen. „Nein! Alles gut, die lieben mich", kurz huscht ein Lächeln über seine Lippen, dann schaut er wieder bedrückt auf das Uni-Gebäude, „aber irgendwie kann ich mich da nicht einleben. Es ist komisch, dass ihr drei noch an der Uni seid. Sogar Eden ist an ihrer Filmhochschule und ich dümpele herum, weil ich das Studium abgebrochen habe und zu dumm bin und –" „Halt, stopp. Wir haben dir schon tausendmal gesagt, was du selber doch auch weißt. Marv, du bist nicht dumm. Und du kannst stolz auf dich sein, dass du es versucht hast. Ganz abgesehen davon, dass wirklich verdammt viele bei Maschinenbau durchfallen, muss man nicht studieren. Du verpasst doch nichts, wenn du dir deinen eigenen Traum erfüllst. In wenigen Monaten kannst du dir ein anderes Restaurant suchen oder ein eigenes eröffnen ...", beginne ich. Erstaunlicherweise rollen die Worte nur so über meine Lippen. Es ist, als müsste ich nichts tun, als müsste ich nicht darüber nachdenken, was ich sagen soll. Es ist so einfach, ihm etwas Tröstendes zu sagen. Jetzt strahle ich aber dummerweise selbst, doch auch Marvin nickt lächelnd: „Oh ja. Mein eigenes Restaurant und nebenan verkaufe ich Motorräder und Motorzeugs." „Siehst du? Würdest du noch weiter deine Zeit hier verschwenden und dich danach erst festigen müssen, könntest du gar nicht sofort so durchstarten und deine Erfahrung würde dir fehlen und ...", rede ich weiter, doch Marvin tätschelt bereits meine Hand. „Danke, Raph. Ich habe es kapiert. Und du wirst ein guter Psychologe, auch wenn du lernen musst, nicht bis zum Weltuntergang zu labern", schmunzelt er mich stolz an, ich grinse breit und strecke ihm aber die Zunge heraus. „Na, seid ihr fertig mit der Seelsorge?", neckt Jannis uns und rückt seine Sonnenbrille zurecht, Steph lacht über den Spruch. „Ha ha. Aber ja. Und ihr? Fertig mit dem Wirtschaftszeug?", ziehe ich die anderen ebenfalls auf, Maze nickt und runzelt dann die Stirn. „Doch nicht meine Erklärungen verstanden, Mister Banker?", feixt Jannis und grinst überheblich, Marvin lacht leise in sich hinein. „Nein, du blöder Managerfuzzi, ich staune über meine Schwester", brummt Maze und nickt auf Eden, die mit Andy über den Hof schlendert, beide tragen Pizzakartons und lachen über etwas. Es ist ungewohnt, Eden mit jemand anderem lachen zu sehen als mit uns, aber manchmal scheint es so, dass sie doch noch eine weibliche beste Freundin braucht. „Hey, Jungs. Lange nicht gesehen", ruft Andy und quetscht sich neben Jannis, Steph und Marvin auf die Bank. Der Erste, der sich an den Kartons zu schaffen macht, ist natürlich Marvin. „Wow, gibt es sowas beim Polizeistudium?", albert er herum, Andy verdreht die Augen und wirft Eden genervte Blicke zu. Ach ja, da ist der Grund, warum Andy nicht in unsere Clique gehört: Sie ist eher mit Eden eng und hält unsere männliche, kindische Dummheit nicht aus, lieber treibt sie sich in Clubs herum und verbringt ihre Abende beim Tanzen als beim Wandern – was natürlich kein Grund ist, sie nicht zu mögen. „Dein Ernst?", sie wirft Marvin irritierte Blicke zu und nimmt ihm dann wieder die Pizza aus der Hand, die sie scheinbar selber haben wollte. Genüsslich beißt sie in ein saftiges Salamistück, dann hält sie mir den Karton hin. „Cool, danke", ich schnappe mir eilig etwas, bevor Maze neben mir auch nach einem Stück fragt. „Hallo? Ich habe auch etwas", beschwert Eden sich inzwischen laut. „Ja ja, iss mal deine Margherita", winkt Marvin ab und wird von Eden mit Brunnenwasser nassgespritzt. Selbst ich werde noch von ihrer nassen Wut getroffen und lache, als Jannis sich deswegen Tomatensoße auf das weiße T-Shirt tropft. „Na toll", schimpft er sofort los und nimmt dankbar das Taschentuch, das Steph ihm reicht. Essen möchte sie im Übrigen nichts, was mich auch nicht überrascht. „Jannis, mach kein Drama draus. Es ist nur ein hässliches, langweiliges Shirt. Zumal ich dir etwas Schlimmeres sagen muss", Eden kichert leise und quetscht sich neben ihren Bruder auf die Bank, sodass Maze mich beinahe von der Bank schiebt. Eigentlich würde ich lachend protestieren und ihn boxen, aber ich halte still. Meine Aufmerksamkeit gilt Eden, die zerknirscht schaut, aber lachen muss, was sie immer tut, wenn sie etwas Unangenehmes sagen muss. „Okay? Sag schon", obwohl Jannis cool tut, sehe ich, dass Sorge hinter seiner verdunkelten Brille aufblitzt. Wenn er nicht die Kontrolle über alles hat, wird er panisch. Und ich würde sagen, dass das hier die Vorstufe von panisch ist. „Puh, okay. Also du weißt ja, dass auf meinem Campus auch die von der Kunsthochschule sind, nicht nur die von der Filmhoch-", setzt sie an, aber Jannis wird bereits nervös: „Na sag schon! Und zwar etwas, das ich nicht weiß." „Okay. Iasmin ist wieder da. Und sie zieht ihn die Wohnung nebenan", lässt Eden die Bombe des Semesters platzen. Nicht nur das, sie liefert damit auch ein äußerst faszinierendes Schauspiel in Jannis' Gesicht, das mein Dozent sicher analysieren und bis in alle Ewigkeit ergründen würde. Als erstes steht da Ungläubigkeit – dann Freude, dann die Erkenntnis der Realität, dann Schock, dann Verarbeitung, dann Wut. „Jannis?", behutsam erhebe ich meine Stimme, nachdem alle anderen schweigen. Maze zieht scharf die Luft ein, als hätte er das nicht gewagt, Marvin hustet und lacht dann: „Wie krass. Voll das Schicksal." „Warte, die Iasmin? Seine Ex?", klingt jetzt Andy sich ein, wobei sie seelenruhig weiter isst und in die Runde schaut. Sofort weiß ich, dass ich sie um ihre Nerven beneide – aber sie hat auch nicht das Drama miterlebt, als das Traumpaar sich getrennt hat. „Ja", Maze zieht seine Lippen zu einem dünnen Strich. Ich schwanke noch, ob ich mich auf seine Seite schlagen soll oder auf Marvins, schließlich ist die Geschichte von Iasmin und Jannis von Anfang an schicksalhaft gewesen. „Und sie zieht neben euch ein? Ist das nicht eine viel zu große Wohnung?", erkundigt sich auch Steph vorsichtig. Verständlich, wenn man neben Jannis sitzt, sollte man gleich doppelt so sanft sein. „Ja, ich glaube, sie geht auch in eine WG", Eden zuckt mit den Schultern und weicht Jannis' bohrenden Blicken aus. Nicht gerade erfolgreich, denn er sieht aus, als würde er sie am liebsten umbringen, weil sie ihm die Nachricht überbracht hat, obwohl sie auch auf ihrem eigenen Campus hätte bleiben können; andererseits kommen sie und Andy seit dem ersten Semester her, weil sie an ihren jeweiligen Hochschulen sonst alleine sind. „Will sie sich wirklich auf so ein Niveau begeben?! Mich so tyrannisieren?!Erst wegziehen, mich dann betrügen und jetzt wieder herkommen und meine scheiß Nachbarin werden?! Auch eine WG?! So eine Heuchlerin, so eine verdammte Schauspielerin! Aber das ist ja typisch für sie, immer eine Fassade aufrecht zu halten und niemanden in ihre eiskalte, gefühllose Seele blicken zu lassen und ... Ich bringe sie um! Muss das sein?!", Jannis reißt Eden den Pizzakarton samt Inhalt aus den Händen, schlägt damit mehrmals auf den Tisch und schleudert dann alles in den Brunnen, sodass eine riesige Fontäne auf den Rest von uns spritzt. Durcheinander fährt er sich durch die Haare und atmet schwer, Eden funkelt ihn böse an, Maze blickt hilflos zu mir und Marvin schaut traurig auf die versenkte Pizza. „Jannis, weder du noch Iasmin habt eine gefühllose Seele, im Gegenteil. Sie hat dich wirklich gelie- ähm ja, sie hat dich unendlich verletzt, das wissen wir und das war wirklich übel. Aber sie hat auch gesagt –", höre ich mich vorsichtig sagen. Alle sehen mich abwartend an, was noch zu retten ist. „Raph, tu mir den Gefallen und spare dir das Gerede, ich will nicht hören, dass wir füreinander bestimmt wären und so einen Müll!", schreit Jannis los, als ich aufstehe und auf ihn zugehen will. Perplex bleibe ich auf halber Strecke stehen, doch er ergreift bereits die Flucht und steuert auf die Parkplätze zu, um vermutlich mit seinem Motorrad vom Platz zu brausen. Mit hängenden Schultern blicke ich ihm nach. So viel zu guter Psychologe. „Wir nehmen ihm sein Zeug schon mit", murmelt Maze leise und klaubt hastig Jannis' Sachen auf, scheinbar ist auch ihm der Appetit vergangen. Eden auch, denn sie blickt schuldig drein und setzt sich nachdenklich auf den Brunnenrand. Vorsichtig, als würde ich eine wilde Löwin aufscheuchen, rutsche ich neben sie. „Es war nicht deine Schuld", flüstere ich ihr zu, sie stützt nur den Kopf auf die Arme. „Nein, war es nicht, auch nicht deine. Aber es war meine Pizza." Bei ihren Worten muss ich grinsen und lege den Arm um sie, als sie sich an mich lehnt. Den erbärmlichen Rest der Mittagspause schweigen wir und hören nur Marvins Kauen, der sich gemeinsam mit Andy über die übrige Pizza hermacht, bis Steph das ratlose Schweigen bricht: „He, was haltet ihr davon, wenn ihr heute Abend mit auf eine Party kommt? Vielleicht äh täte das allen ganz gut?"

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt