Kapitel drei

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Raphaels Sicht 

Ich habe noch nie so eine wilde Party erlebt – das mag daran liegen, dass wir ohne Steph vermutlich nicht hergekommen wären. Weil wir sowieso fast nie zu irgendetwas eingeladen werden. Erstaunlicherweise ist Jannis mitgekommen und sogar heimgekommen, als wir sichergestellt haben, dass die Wohnung unter uns noch leer ist. Gerade spielt er sich neben mir auf, rückt sein weißes Polohemd zurecht und stylt sich seine Haare, während er mit verkniffenem Gesicht in eine Richtung blickt. „He, Raph, schau mal bitte. Sehe ich heiß aus? Oder sind die Haare zu fest?", brüllt er mir ins Ohr und schaut möglichst sexy. Kaum schaue ich ihn frontal an, lache ich los. Jannis schaut nur abwartend. „Na los!" „Okay, okay, ich schaue ja schon. Es sieht gut aus, aber mach dich locker, das ist viel zu verkrampft. Und mach das Hemd nicht so weit auf, das wirkt auch viel zu gewollt!", rufe ich über die Musik zurück und mustere weiter seine aalglatten blonden Haare, über die man mit Sicherheit eine Murmel rollen könnte, ohne, dass sie hängen bleibt. „Okay und jetzt?", nervt Jannis weiter, diesmal ein charmantes Lächeln aufgesetzt und die Hände in den Hosentaschen versteckt, damit man seine geballten Fäuste nicht sieht. „Was zur Hölle macht ihr da? Sollte Raph bei den Posen Fotos machen, oder ...?", schreit Marvin in unsere Mitte. Seinen Worten folgen ein paar Schlucke Bier, die über den Rand der roten Pappbecher kippen. Das dunkle Bier tropft direkt auf Jannis' helle Sneaker, woraufhin er Marvin den Becher aus Hand reißt und ihn anpampt – wohl doch alles wie heute Morgen. „Ich versuche heiß auszusehen! Ruiniere mir nicht mein Outfit, Mann!", brüllt er ihn über die Pop-Musik hinweg an, Marvin lacht rau und wirft mir dumme Blicke zu. „Er will eine aufreißen?", wendet er sich dann amüsiert an mich, Jannis funkelt ihn an, als Marvin so ungläubig klingt. „Jap", bestätige ich nur und setze mich auf eine der Treppenstufen. Irgendwie ist es noch immer ungewohnt, in einem völlig fremden Haus zu feiern; besonders, wenn hier über zweihundert Leute herumspringen, völlig falsch zur Musik tanzen oder Beerpong spielen. „Aufreißen klingt so ausnutzend, dabei will ich ja auch eine kennenlernen", räumt Jannis ein und ext das Bier, das Marvin ihm mitgebracht hat. „Halt, da können wir gerne gleich anknüpfen, aber wo ist mein Bier?", ich stupse Marvin an, der selber an seinem übervollen Becher nippt. Dann seufzt er wohlig auf. Jannis lacht in sich hinein und schaut mich an, was ich zu deuten weiß: Pech für dich. Ja, ich weiß. „Bei Maze", brummt Marvin nur und schirmt seinen Becher von mir ab. Eigentlich keine dumme Idee, schließlich klauen wir alle fünf einander dauernd die Getränke, aber so nötig habe ich das Bier heute auch nicht. Am liebsten würde ich mich gar nicht volllaufen lassen, wenn morgen gleich eine wichtige Vorlesung zu Freud ansteht, aber damit bin ich einer der Einzigen – zumal Eden sich bereits als Fahrdienst erklärt hat und die Party schwänzt, um daheim in Ruhe zu lesen oder einen neuen Kurzfilm zu kreieren. „Lustig, Marv, lustig. Also, wo ist Maze?", ich pikse ihn erneut in die Seite, sodass er lacht und nochmal die Hälfte seines Becherinhalts auf Jannis kippt. „Weiß nicht, der war eigentlich direkt hinter mir, als wir das hier geholt haben", er hebt seinen Becher und trinkt den Rest, „aber vielleicht ist er ja noch in der Küche, da gibt's sogar ein Fass. Voll cool." Diesmal lacht Jannis offensichtlich und brummt etwas Feixendes, was ich bei der Musik nicht verstehe. Als ich mich zu ihm beugen und nachhaken will, macht er sich bereits auf den Weg in die Menge. „Bringst du mir noch ein Bier mit?", Marvin sieht  mich bettelnd an, ich seufze. „Dabei hast du mir nicht mal eins mitgebracht, sondern es Maze tragen lassen", spanne ich ihn auf die Folter – als könnte ich Nein sagen. „Ja, aber du weißt, dass ich nicht mal zwei Becher sicher tragen kann, wie dann drei? Alsooo? Bitte, bitte, Raph! Und bring Maze auch gleich mit", als er seine Hände bettelnd faltet, ergreife ich lachend die Flucht und nicke, als er mir hinterherruft. Schmunzelnd schlängele ich mich an den knapp bekleideten Mädels vorbei, sogar an einem gut gebauten Oberkörper freien Kerl, der durch einen Trichter Bier über sein Sixpack laufen lässt. Doch ich entdecke niemand Bekannten, nicht einmal aus meinen Lesungen, geschweige denn Levin (ist der überhaupt hier?), Steph oder Maze. Suchend recke ich den Kopf, aber kann nicht alles sehen. Zwar überrage ich hier mit meinem Meter achtzig die meisten Mädels, aber längst nicht die vielen Typen, besonders nicht, wenn sie auf einem Tisch stehen und etwas Unverständliches und dermaßen Besoffenes brüllen. Also gebe ich es auf und schiebe mich an einem knutschenden Paar vorbei in einen u-förmigen Raum, in dessen Mitte tatsächlich ein riesiges Bierfass steht, dessen Hahn läuft. Doch von Maze ist keine Spur zu sehen. Ein wenig überfordert drehe ich mich einmal im Kreis und stelle mich auf die Zehnspitzen, doch meine Freunde sind nicht zu sehen. Nicht einmal Marvins orangener Haarschopf ist mehr auf der Treppe! Verdammt. Kurzer Hand entschließe ich mich dazu, mich durchzufragen. Eigentlich komme ich gut mit Leuten aus, vor allem mit Fremden, die nur mich kennen – und nicht uns fünf mit der gleichen Augenfarbe und fünf verschiedenen Haarfarben erleben. Apropos, als erstes stechen mir die gefärbten Haare eines kleines Mädchens ins Auge, die einen Ton irgendwo zwischen Marvins orangenen und Edens roten Haaren darstellen – ich entschließe mich, dass sie sympathisch sein muss. Um nicht zu komisch zu wirken, schnappe ich mir zwei leere Becher und fülle sie auf, dann schlendere ich um das Fass herum und stelle mich zu ihr, während sie aus dem Fenster schaut. Als sie den Schatten neben sich bemerkt, dreht sie sich mit großen Augen zu mir. Sie wirkt jung, viel zu jung für eine Party und ich mache mir Vorwürfe, vielleicht zu aufdringlich zu wirken. Andererseits höre ich immer das Kompliment, besonders offen, empathisch und unkompliziert auf andere zu wirken, also lächele ich sie sanft an. Augenblicklich entspannt sie sich, auch wenn sie sich mit ihren leuchtenden Augen noch einmal in der Küche umschaut, ob da jemand ist, falls etwas sein sollte. „Hi, sorry, ich wollte dich nicht erschrecken", beginne ich das Gespräch – nicht zu laut, als dass jeder rübersieht, aber nicht zu leise, dass sie mich nicht verstehen würde. „Oh, nein, es ist nur ... Ich bin neu hier, also neu in Österreich", stammelt sie in einem aufgeschlossenen und einwandfreien Deutsch, auch wenn der Akzent nicht zu überhören ist. „Aus Frankreich nehme ich an?", schmunzele ich sanft, sie strahlt und streicht ihr kurzes blaues Kleid glatt. Mein Blick fällt auf ihre Sneaker, mit denen sie nervös auf und ab wippt. „Oui, ich meine, ja. Ich kenne hier niemanden außer meiner zukünftigen Mitbewohnerin und, weißt du, wir ziehen am Samstag zusammen, oh, das hätte ich dir nicht sagen dürfen, jetzt weißt du, dass ich noch alleine im Hotel wohne, oh", sie schlägt die Hand vor den Mund und kichert, ich lache auch. „Alles gut, ich bin schwul. Also nicht, dass das ein Kriterium sein sollte. Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du meinen Mitbewohner gesehen hast, er sollte eben in der Küche gewesen sein", grinse ich das aufgeregte Mädchen an. Ich mag sie auf Anhieb, sie ist niedlich und verdammt überfordert, ein wenig erkenne ich mich in ihr. „Oh. Irgendwie ist das schade", sie lacht wieder, „sorry, ich habe zu viel getrunken." „Dann sollte ich dir wohl nicht noch einen Drink anbieten", hastig will ich den Becher wegstellen, doch sie greift danach und nippt daran. „Doch, danke! Wie sieht dein Mitbewohner denn aus?", erkundigt sie sich und wirkt entspannt. Neugierig sieht sie mich an und blickt sich dann suchend um. „Hm, lange braune Haare, braune Augen und einen ... unauffälligen Style? Er hat ein graues Shirt und ne Jeans an", ich merke selber, dass ich mir die Frage auch hätte sparen können. Maze in einer Menge wiederzufinden ist quasi unmöglich. „Hm, ich weiß nicht. Vorhin war hier einer, der könnte es gewesen sein. Aber ich weiß es leider nicht, tut mir leid", sie zuckt mit den Schultern und sieht mich dann mit leuchtenden Augen an, als hätte sie eine Idee. „He, kannst du vielleicht mit mir auf die Toilette gehen? Also davor warten, aber irgendwie traue ich mich nicht alleine nach oben", sie schaut mich hoffnungsvoll an, ich nicke sofort. „Aber klar! Das verstehe ich, als junge Frau ist das sicher nicht leicht, sich frei auf einer großen, unkontrollierten Feier zu bewegen. Wieso ist denn deine Mitbewohnerin nicht bei dir?", lasse ich mich natürlich breitschlagen. Natürlich ist es eine Ehre, dass sie mir vertraut, aber dennoch bin ich so treudoof. Vielleicht wirke ich einfach immer so auf andere? Aber für sie bin ich gerne der Aufpasser, zumal mir wirklich bewusst ist, dass Frauen es nicht leicht auf Partys oder nachts beim Ausgehen haben. Also folge ich ihr durch die Menge und versuche mit ihr über die laute Musik hinweg zu kommunizieren. Es macht Spaß, über die Party zu reden und zu erfahren, dass sie – Deliah – hier Kunst studiert, sogar noch im ersten Semester. Ihre Mitbewohnerin hat sie auf einer Ausstellung kennengelernt und als sie mich zurückfragt, bin ich erstaunt, dass sie nicht ablehnend reagiert. Stattdessen lächelt sie und meint, wie cool unsere Fünfer-WG klingt und dass sie neidisch ist, dass sie nicht auch so langwährende Freundschaften hat. „Oh, das tut mir jetzt leid, dass ich dich die ganze Zeit davon abhalte, dass du deine Freunde suchst", murmelt sie, als die Schlange vor der Toilette immer kleiner wird und sie in das geräumige Badezimmer gehen kann. Mein Gott, das sieht aus, als würden wir hier Millionäre hausen – aber was bin ich eigentlich noch immer so erstaunt? Eigentlich sollte ich das von drei meiner vier Freunde gewohnt sein. „Quatsch, ich habe dich angesprochen und ich freue mich, neue Leute kennenzulernen", erwidere ich und meine es auch so. In den Ferien hat es mir tatsächlich gefehlt, nicht einen Abend mit neuen Menschen zu verbringen und belangloses Zeug zu bereden, auch wenn ich es den anderen vier gegenüber nicht wirklich zugeben würde. Strahlend wirft mir Deliah noch ein Lächeln zu und versichert mir, dass sie sich beeilen wird, während ich mich nach einer Sitzmöglichkeit umblicke. Dort, zwischen den beiden Paaren ist noch Platz auf der Bank und ich habe die Tür im Auge. So wenig Platz beanspruchend wie möglich quetsche ich mich zwischen die Paare und greife nach meinem Smartphone, das aufblinkt. Jetzt war ich so auf das Gespräch mit Deliah fokussiert, dass ich nicht daran gedacht habe, meine Nachrichten im High Five-Chat zu checken und so die anderen zu finden. Gott, bin ich bescheuert!

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt