Kapitel achtundfünfzig

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Raphaels Sicht 

Oh Shit. Hastig beende ich den Chat mit den anderen und werfe mein Handy ans andere Ende meines Bettes, damit es so aussieht, als würde ich nachdenklich in Boxershorts vor dem Kleiderschrank sitzen und seit Stunden überlegen, was ich anziehe – und nicht als ob ich nach dem Duschen ewig mit Jannis, Marvin, Maze und Eden gechattet habe. Dabei haben wir uns heute Mittag wie gewöhnlich in Marvins Shop getroffen, bevor jeder noch typisches Samstag-Zeug erledigen musste, wie zum Beispiel einkaufen zu gehen. An einem so großen Tag wollte Gabriel das natürlich nicht übernehmen. Natürlich stürmt mein Freund sofort in mein Zimmer, kaum betritt er die Wohnung, und bleibt fassungslos im Türrahmen stehen. „Hi?", ich lächele zerknirscht und mustere meinen heißen Mitbewohner, der jetzt schon verschwitzt ist und sich in eine kurze Jogginghose und enges schwarzes T-Shirt geworfen hat, weil er sich scheinbar vor Ort bei dem Kampf erst noch umzieht. Bis eben hat er wohl mit Pat und Felix gegessen oder trainiert – kein Wunder, in zwei Stunden haben die Zwillinge ihren Kampf. „He, Kleiner", er grinst schief und lässt sich mit seinem vollen Gewicht zu mir auf die Matratze fallen, wir lachen beide bei dem Knacken. „Ha ha", ich lehne mich seufzend an ihn und starre in meinen chaotischen Schrank, in den ich meine Sachen immer werfe, wenn ich keine Zeit mehr habe, sie ordentlich zu sortieren – also wirklich immer, weil Gabriel jedes Mal etwas (Sex) einfällt, wie er mich davon abhalten kann. „Wirklich. Du wirst heute der absolut Kleinste sein. Neben den Frauen. Na ja, nicht klein, aber unmuskulös", Gabriel schnalzt mit der Zunge und fährt sich über seinen hellen Bart. Ich ziehe nur die Augenbrauen hoch, auch wenn ich innerlich durchdrehe. Nicht wegen seiner Aussage, sondern wegen der Vorstellung, mit lauter kriminellen und düsteren Menschen in einem Raum zu sein; etwas, bei dem ich mich nicht ganz wohlfühle. „Wow, du bist so nett. Du bist echt immer noch viel gemeiner, wenn du vorher – warte, deine Haare sehen ja merkwürdig aus", ich schiebe ihn an den Schultern von mir weg, damit ich ihn besser betrachten kann. Seine blonden Locken hat er irgendwie plattgedrückt und gleichzeitig zu einem Knäuel geformt, das ziemlich nass und schmierig aussieht. „Hm ja. Wir mussten eine Frisur finden, bei der Pat und ich identisch aussehen", Gabriels Mundwinkel zucken und verziehen sich zu einem ironischen Grinsen, ich muss mir ein Lachen verkneifen. „Lach nicht, Kleiner", er boxt mich härter als sonst und wirft sich nach hinten. „Doch. Ich meine, du siehst unfassbar scheiße damit aus. Also immer noch heiß, aber echt ziemlich finster und ekelhaft. Weißt du, was ich meine? Oh, Scheiße, guck nicht so! Pat sieht doch sonst auch nicht so aus. Es wäre vielleicht klüger gewesen, wenn ihr beide seine Frisur hättet, statt eure Frisuren echt komisch zu vermischen", merke ich an und will mich zu ihm lehnen, um in seinen Haaren herumzufummeln, aber Gabriel schiebt mich lachend weg und fährt kurz über meinen Rücken und runter zu meinem Hintern, um frustriert zu stöhnen. „Ach, fuck, ich würde dich jetzt echt gerne ficken. Na ja, wir haben keine Zeit, weil du, Kleiner, spät dran bist. Du hast ja nicht mal etwas an, Mann", schimpft er und richtet sich auf, ich lächele ihn abermals schuldig an. „Ich weiß! Tut mir leid, wir haben zu lange gechattet", gestehe ich, Gabriel knurrt gespielt und mustert mich mit engen Augen: „Du schreibst mit anderen Menschen als mit mir?" „Oh ja, wie dramatisch", ich lache und beiße mir auf die Lippen, „tut mir echt leid. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du sowieso etwas an meinem Outfit zu meckern hättest." „Das ist wahr. Was würdest du denn nehmen?", Gabriel verschränkt die Arme und tippt auf seinen nackten Unterarmen herum, als würde uns die Zeit davonlaufen. Tut sie auch. Schnell springe ich auf und scanne meinen Schrank. Nein, zu bunt. Nein, zu retro-mäßig. Nein, zu auffällig. „Ähm ... das dunkle Shirt vom letzten Mal? Und eine zerrissene Jeans?", frage ich und drehe mich zu meinem Freund, der schnaubt. „Niemals. Nur weil ich eine kaputte Hose trage, heißt es nicht, dass du auch damit kommen kannst. Meine sind schwarz, deine nicht. Und ich trage dazu Lederjacken und keine Jeansjacken", erklärt er und fuchtelt in der Gegend herum, ich nicke, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich es kapiert habe. „Warte hier und zieh' bloß nichts an", warnt er mich und stapft lautstark durch die Wohnung. Schmunzelnd schließe ich meinen Schrank wieder und warte, bis er mit einem Haufen unter dem Arm wieder reinkommt. Er wirkt definitiv gestresst, schon alleine, wie er seine Stirn in Falten legt und mich angestrengt mustert. „Sollte gehen. Zieh das an und mach deine Armbänder ab", weist er mich unter Storm an und wirft mir ein braunes T-Shirt zu. Schweigend fange ich es und schlüpfe hinein – es ist eh schon groß, aber bei mir sieht es riesig aus. Gerade, als ich es zurechtziehen will, nimmt Gabriel meine Hände und schaut mich intensiv an. „Nein. Fuck, ich mache mir einfach nur Sorgen. Ich will nicht, dass du da drinnen untergehst oder rauskommt, dass du schwul oder ein Psychologe bist oder so, dann sind wir voll im Arsch. Das wäre gefährlich für dich und mein Ende. Also ... verhalte dich einfach so wie ich", schärft er mir ein, ich schlucke laut: „Wie du? Männlich oder was?" „Nein, du bist auch männlich, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich meinte eher scheiße und wie ein Bad Boy und so. Und tue wenigstens so, als hättest du Muskeln und könntest dich wehren, auch wenn du eh keine Chance hättest." „Es klang gerade wie eine Beleidigung, aber egal", schmunzele ich und Gabriel grinst ebenfalls schief, fast liebevoll. Seine blauen Augen kreuzen meinen Blick noch einmal, dann wendet er sich ab und wühlt sich durch meinen Schrank, während ich das T-Shirt so locker lasse und noch meine Armbänder aufknote und teilweise aufschneiden muss – aber er hat recht, wir dürfen kein Risiko eingehen. Als ich fertig bin, wirft er mich bereits mit alten schwarzen Jeans ab und greift am Boden nach den anderen Sachen, die er sich überlegt hat: ein paar Armbänder, sogar ein Pflaster und meine dunkelsten Chucks. Zum Schluss, als ich zweifelnd an dem Pflaster auf meinen Knöcheln herumnäsele, legt er mir seine geliebte braune Lederjacke um die Schultern und grinst breit. „Im Ernst? Die?", ungläubig schaue ich ihn an und zupfe an dem kalten, dicken Stoff. „Ja, sie steht dir, ich ziehe einfach die schwarze an. Und du siehst echt heiß darin aus. So richtig bad und es ist einfach ... ich mag es, wenn du meine Sachen trägst. Das sollten wir auch einfach so machen", höre ich ihn tatsächlich sagen. Erstaunt über seine Worte schaue ich Gabriel an und kann das breite, glückliche, dumme Lächeln einfach nicht von meinem trockenen Lippen wischen. „Aber nur, wenn du auch mal etwas von mir anziehst", murmele ich dann und grinse ihn frech an. Gabriel lacht rau und schüttelt den Kopf. „Oh doch. Deine Oberteile passen mir doch auch", raune ich ihm zu, er schnaubt. „Manche vielleicht", beharrt er, diesmal schnaube ich und boxe ihn lachend. Sofort fängt er meine Hand noch vor seiner Brust ab und sieht mich intensiv an. „Raphael, ich – egal, was heute passiert, ich liebe dich", murmelt er auf einmal und senkt den Blick, als er seine Stirn an meine legt. „Gabriel, was zur Hölle ist los?", erwidere ich und greife nach seinen zitternden Händen. „Fuck, ich – ich habe einfach nur Angst um dich. Das ist nicht deine Welt und ich will nicht, dass dir etwas passiert. Und ich habe Schiss, dass er da ist", flüstert er und kneift die Augen zusammen, ich schüttele den Kopf und greife nach seinem. Sanft nehme ich ihn zwischen meine Hände und streife mit den Daumen über seine rauen Wangen. Er schaut mich nur mit einem lodernden Blick zwischen Tatendrang und Panik an. „Er wird nicht da sein, Gabriel. Und dann hast du mich, ich bin da. Dein Zwilling, dein bester Freund, die Frauen. Du bist nicht alleine und auch dein Bruder ist nicht alleine. Und ihr seid erwachsen geworden. Verdammt, Gabriel, ihr seid bei einem Underground-Kampf und macht zwei Muskelprotze fertig. Da könnt ihr doch auch einen Kerl mittleren Alters, der nicht mal Muskeln hat und dauernd besoffen ist, umhauen. Locker. Du musst es nur glauben. Und loslassen", wispere ich und halte ihn fest, damit er mich anschaut. Sein Blick wird härter, er nickt. „Ich bin da, Gabriel. Oder ich bleibe hier, wenn – ", fange ich an, er schüttelt energisch den Kopf und küsst mich hart. Das ist wohl ein Nein.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt