Gabriels Sicht
Langsam nehme ich meine Finger wieder vom der Wand und grinse Raphael an. Für eine Sekunde steht er wie erstarrt in dem dunklen Saal und scharrt mit seinen bunten Chucks am Boden, dann verschränkt er seine Arme und leuchtet somit in die Richtung meines Bildes. Ich ziehe die Luft ein. „Es war klar, dass du nicht nur aufs Klo gehst", brumme ich und mache ein paar Schritte auf ihn zu. Dann bin ich immerhin außer Sichtweite der Ausstellungsgäste. Und von Iasmin und Deli, die sich gerade noch irgendein Dessert bestellt haben. Als Raphael ewig nicht zurückkam, sollte ich nach ihm schauen – irgendwie glaube ich, dass sie eher wollten, dass ich ihn beim Pissen erwische, aber was soll's. Dass sie uns verkuppeln wollen, ertrage ich schon den ganzen Abend. Diese unterschwelligen Kommentare nerven. Und die hört Pat zum Glück nicht. „Ach? Eigentlich nicht, die Mädels haben bestimmt nichts geahnt", er räuspert sich und fixiert mich mit seinen dunklen Augen. Noch immer scheint er keine Angst zu haben. „Stimmt, aber die kennen dich nicht so gut wie ich", höre ich mich düster sagen. Er lächelt. „Vermutlich." „Hör auf zu grinsen", knurre ich ihn an. Er kann nicht so tun, als wäre das hier eben als Kompliment oder Liebeserklärung oder so gedacht. Fuck, das war es nicht. Das ist mir nur verdammt dumm rausgerutscht. „Sorry", antwortet er theatralisch und verdreht die Augen. Er scheint in den letzten Monaten ironischer geworden zu sein. Nicht mehr ganz so strahlend und fröhlich. Liegt vermutlich daran, dass wir seine Freundschaft mit den anderen versaut haben. Pat würde jetzt sagen, dass sie selber schuld sind. Aber Raphael – er nicht. Oder? Er tut mir irgendwie leid. Er kann nichts für den Verrat seiner Freunde und wen seine Freunde vögeln. Aber wen er vögeln will, schießt es mir unkontrolliert durch den Kopf. Ich spanne mich an. Nein, nein, nein. „Hast du keine Angst, Kleiner?", raune ich ihm zu. Mit einem großen Schritt stehe ich bei ihm. Er schüttelt langsam den Kopf mit seinen dunklen Locken, die in dem schummrigen Licht kaum zu erkennen sind. „Nein, tatsächlich nicht. Du gibst dir echt Mühe", brummt er und fasst sich trotzdem unbewusst an die Stirn. Mein Blick folgt seinen Fingern, die die weiße Narbe auf seiner blassen Haut berühren. Sie fällt nicht auf, wenn man es nicht weiß. Aber als Ursache sehe ich sie immer sofort. Ich erinnere mich daran, wie ich ihm als Kind die Dose an den Kopf geschleudert habe und wie ich ihn vor ein paar Monaten auf dem Parkplatz mit meinen Freunden zugerichtet habe. Er hat am Boden gelegen, geblutet und nach Luft geschnappt. Doch scheinbar scheint er diesmal nicht vor mir zurückzuweichen oder noch irgendwelche Angst zu haben, auch wenn sein Blick verdunkelt wird, als würde er sich auch an unser letztes Treffen erinnern. „Ich habe keine Angst mehr vor dir, Gabriel", murmelt er selbstbewusst und schaut mit dann unvorbereitet tief in die Augen. Fuck. Ich spüre, wie mein verficktes Herz zu rasen beginnt. „Aber du hast Angst", fährt er fort. Sicher. Herausfordernd. Männlich. „Nein", ich schnaube. Als hätte ich Angst. „Doch. Du hast Schiss, dass ich dort rübergehe zu deinem Bild", deutet er an und zeigt in die Dunkelheit. Er verfehlt mein Bild um einige Meter und zeigt glaube ich auf irgendeine Montage. Nicht dorthin nach links, wo meine Leinwand hängt. Als ich ihn wieder ansehe, bemerke ich sofort meinen Fehler. Ein stolzes Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus. „Das war eines deiner Psycho-Spiele", ich will ihn festhalten, aber er grinst und sprintet los. „Das schon!", ruft er etwas zu laut über die Schulter. Ob man das sogar drüber im Speisesaal hört? Ich bin sicher, ich würde rausfliegen – samt Bild – wenn ich hier mit ihm ein Wettrennen durch die Ausstellung mache. Und trotzdem stoße ich mich vom Boden ab, spüre das Adrenalin in meinen Adern und das vertraute Gefühl von Rebellion und Freiheit in meinen Muskeln, als ich ihm hinterherjage. Er läuft lachend absichtlich einen Umweg und leuchtet uns mit seiner Handytaschenlampe den Weg. Beinahe blind folge ich ihm, seinem Schnaufen und dem Quietschen seiner Schuhsohlen auf dem teuren Boden. Meine Arme streifen einen Sockel, als ich ihn beinahe zu fassen bekomme. Jedenfalls Stoff. Außer Atem sprintet er weiter und stößt gegen etwas, das von der Decke baumelt. Ich lache laut, umrunde es und wähle den anderen Weg. Gekonnt weiche ich haarscharf den stehenden Bildern und Staffeleien aus, bis ich ihn noch knapp vor meinem Gemälde zu fassen bekomme. Wie geplant schneide ich ihm den Weg ab und packe ihn am Bauch. Doch er ist schwerer als gedacht, nach all den heißen Frauen in Paris habe ich sein Gewicht vergessen, und hält sich keuchend an mir fest. Bevor er noch einen Blick auf das Bild bekommt, werfe ich ihn ohne weiter nachzudenken auf den Boden und lasse mich von ihm mitreißen. Er ist stärker als ich es in Erinnerung habe und trotzdem weiß ich nicht, wie grob ich mit ihm umgehen kann, ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Ich lande auf ihm und merke seinen warmen Körper unter mir. Er strampelt und versucht mich von sich zu drehen, doch er würde mich nicht einen Zentimeter bewegen können. Keuchend angelt er nach seinem Handy, das neben uns liegt. Das Licht leuchtet wie eine Pyramide an die hohe Decke und lässt Staubkörner in der Luft tanzen. „Und jetzt?", ich bin – im Gegensatz zu ihm – nicht außer Atem und obwohl ich über ihm liege und mich abstütze, habe ich das Gefühl, dass ich keine Luft mehr bekomme. „Ist mein Plan, mein Handy zu schnappen und das Bild über deine Schulter betrachten zu können", erwidert er ehrlich und linst über mich, aber der Strahl ist zu weit von meinem Bild weg. Als ich mich umdrehe, schafft Raphael es sogar, sich zu befreien und will gerade unter mir wegrutschen, da schnappe ich ihn wieder und hätte nicht mit seinem Schwung gerechnet. Doch ich reagiere schnell und bevor er sich befreien kann, wälze ich uns beide auf dem sauberen Boden herum. Immer wieder rollen wir nach links und rechts, bleiben immer in der Nähe des Bildes, bis ich blinzele. Das Drehen bekommt mir gar nicht. Raphael nutzt den Moment und dreht uns nur noch einmal, sodass er über mir sitzt. Direkt auf meiner Hüfte, verdammt. Auf meinem Schwanz, wenn er so will. Wenn mir jetzt schwindelig ist, ist mir auch schlecht. Und ich bekomme keine Luft mehr und gleichzeitig ist mir flau im Magen. Ich glaube, ich habe mich noch nie so scheiße gefühlt und gleichzeitig so high. „Tja, da zahlen sich die ganzen Besuche im Freizeitpark aus, wenn ich schon nicht so gut kämpfen kann wie du", grinst er mich verschwommen an. Verdammt. Er macht keine Anstalten, von mir runterzugehen. Stattdessen schnappt er sich sein Handy und leuchtet direkt auf meine Gemälde. Seufzend lasse ich meinen Kopf auf dem kalten Boden liegen und zähle mit angespanntem Kiefer die Sekunden, bis nicht mehr alles vor meinen Augen verschwimmt. Der Kerl auf mir drauf schaut nur still das Bild an und lächelt hörbar. „Es ist echt krass", murmelt er irgendwann und seine Hände sinken nach unten, zumindest tut es das Licht. „Ja, komm, jetzt reicht es auch wieder. Geh von meinem Schwanz runter", herrsche ich ihn an, als ich wieder bei Sinnen bin. „Oh. Ups", er lacht verlegen und doch amüsiert. Aber klar, er ist das ja gewohnt. Er kennt ja Schwänze. Wenn er mit Kerlen fickt. Kurz tauchen Bilder vor meinen Augen auf. Ist er eher der Typ, der oben drauf sitzt oder unten drunter liegt? Oder ist der Kerl und der andere das Mädchen, in das er – Fuck. Weg mit den Scheißbildern, weg damit. „Mon dieu!", zerbricht ein lautes Quietschen meine beschissenen Gedanken. „Deli, Iasmin", presst Raphael hervor und klettert blitzschnell von mir runter. Stöhnend richte ich mich auf und erhasche einen kurzen Einblick unter die Kleider der Mädels, ehe ich mich aufrichte und die Arme verschränke. Was tun die beiden hier? „Was macht ihr denn hier?", presst Raphael erstaunlich hell hervor und lacht verlegen. „Euch suchen. Ob ihr auch Nachtisch wollt, aber den hattet ihr ja wohl gerade", kommentiert Iasmin trocken. „Nein!", schreie ich sie an. Das ist einfach ein Reflex. Vermutlich kriegen spätestens jetzt vermutlich alle beim Essen mit, dass wir wieder hier im Saal sind. Ist das überhaupt erlaubt? „Es war nicht – der Kleine hat mein Bild gestalkt", fauche ich und stelle mich weiter von Raphael weg. Als wäre er mein verfickter Nachtisch! Als hätten die beiden uns gerade beim Ficken erwischt – ich wüsste ja nicht mal, wie genau das mit ihm funktioniert. „Nein – ja, von mir aus", seufzt er und hebt ergiebig die Hände und räuspert sich dann. „Also falls es hier noch Eis oder einen Kuchen gibt, wäre ich schon dabei", klingt er so normal wie möglich. Die Mädels grinsen nur breit. „Ja! Ich hab meinen Kuchen nicht mehr geschafft", lächelt Deli und schnappt sich Raphaels Arm, um ihn mit sich zu ziehen. Die beiden sind beinahe niedlich zusammen. Fuck, niedlich. Ich dachte, das Thema wäre abgeschlossen. Raphael ist weder niedlich noch cool oder verständnisvoll. Gelb war verständnisvoll. „Keine Sorge, wir haben nichts gesehen, oh großer, männlicher, heterosexueller Gab", schnaubt Iasmin und verdreht die Augen. Sie stößt mich in die Seite und zeigt ihre perfekten strahlend weißen Zähne. Raphael hatte im Übrigen recht – die Farbe Weiß passt perfekt zu ihr, genau wie Deli ein kleiner, rosafarbener Flummi ist. „Danke, bin ich alles", fahre ich Iasmin dennoch bestätigend an. Bin ich, verdammt. Ich stehe doch nicht auch auf Männer. Als gäbe es eine andere Option, auf einmal nicht auf Frauen zu stehen, verdammt. „Klar doch. Und übrigens hätte ich an euer Stelle das Licht angeschaltet, das ist weniger auffällig und wirkt weniger komisch. Mehr so, als würde man sich die Kunstwerke nochmal ansehen", raunt Iasmin mir zu und läuft lachend voraus zu dem Vierer-Tisch. Fuck, Mann.
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Repressed Colours (Band 1)
RomanceBunt und düster. Warm und kalt. Frei und wild. Treu und loyal. Raphael und Gabriel. (Band 1) Unterschiedlicher könnten ihre Welten nicht sein und doch vermischen sie sich: online und im realen Leben. Das bunte Quintett der besten Freunde Raphael, Ma...