Kapitel sechsundvierzig

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Raphaels Sicht 

Abwechselnd tippe ich eine Antwort bei What'sApp in die High Five-Gruppe ein und räume summend einen Teller aus der Spülmaschine – mich wundert es ja, dass Gabriel das Teil heute Morgen eingeschaltet hat; und danach für Stunden weg gewesen ist, es wäre auch zu schön gewesen, hätte er es gänzlich auf die Reihe bekommen. Dabei verbraucht er den meisten Müll, das meiste Geschirr (jedenfalls seitdem ich ihn dazu zwinge, vom Teller und nicht aus der Dose zu essen) und die meisten Lappen, weil er dauernd Zeug verschüttet. Im Grunde ist es eine Zumutung, mit ihm zusammenzuwohnen. Und trotzdem würde ich es nicht anders – etwas berührt mich an der Schulter. Ein leiser Schrei entfährt mir schon, als ich mich umdrehe und in Gabriels Gesicht schaue, das nah an meinem ist. Er hat den Kopf ein wenig gesenkt, seine Locken hängen ihm unordentlich in die Stirn, seine Augen funkeln wieder lebendig und seine Lippen haben seit Monaten nicht so breit gelächelt, ja schon gestrahlt. Fragend nehme ich die Kopfhörer aus dem Ohr und werfe sie auf die Ablage zu meinem Handy, wo die anderen sicher wieder ein Meme geschickt haben. „Heeey, was gibt's? Beziehungsweise gibt es für dich nichts mehr, wenn du das nochmal tust!", schimpfe ich los, Gabriel lacht nur dunkel und steckt mich damit an. „Tja, dann bediene ich mich trotzdem am Kühlschrank. Und warum zur Hölle räumst du noch Zeug aus?",  er macht einen Schritt auf mich zu und drängt mich mit der Hüfte gegen den Herd, ich drücke ihm meine Hände auf die Brust. Sein Herz rast unter meiner Hand, auch wenn uns noch sein T-Shirt und die Kette trennen. „Weil ein Vollidiot die Spülmaschine angelassen hat und ich auch erst heim gekommen bin. Wir waren ewig bei Orange im Motorshop und haben bei den letzten Vorbereitungen geholfen", seufze ich und starre nur auf meine Hände, die auf seiner Brust ruhen. Er beruhigt sich langsam, auch wenn sein Puls noch viel zu hoch ist und sein Atem stoßweise geht. „Klingt gut. Ich muss dir etwas sagen", nuschelt Gabriel atemlos und lacht ungläubig, ich lächele automatisch mit ihm. „Ich habe es Dunkelblau und Schwarz gesagt! Na ja, zumindest, dass ich bei dir wohne. Und so ein paar Andeutungen. Also nicht viel, aber ich habe einen Teil erzählt! Fuck, ich habe manches gesagt!", schreit Gabriel mich lachend an, ich grinse und kann meinen Blick kaum aus seinen leuchtenden, funkelnden Augen lösen. Er wirkt so befreit wie noch nie, von seinen harten Gesichtszügen kommt ausnahmsweise kein einziger durch. „Das ist der Hammer. Ich bin stolz auf dich", höre ich mich ebenfalls atemlos sagen, Gabriel nickt und lacht ungläubig, fassungslos, bis er sie wirklich verliert und mich an sich reißt. Hustend erwidere ich die Umarmung und lege meinen Kopf auf seine bebenden Schultern und streife seinen Hals. Er schaudert kurz, lacht aber ausgelassen und schlingt die Arme fest um mich, sodass er mich gefühlt zerquetscht und herumdreht. „Gabriel! Au, he! Ist gut! Ich freue mich für dich, aber du zerdrückst mich, wenn ich keine Luft kriege", lache ich angespannt und drücke ihn weg, bis ich wieder zu Luft komme, er aber noch immer seine starken Hände um meinen Rücken gelegt hat. Grinsend hebt Gabriel seinen Kopf von meinen Schultern, sodass wir verdammt eng umschlungen dastehen und uns tief in die Augen schauen. „Ich bin nur so erleichtert. Mir war gar nicht klar, dass ich noch immer solche Gefühle für Dunkelblau habe, verstehst du?", murmelt er und wirft einen Blick auf meine Lippen, ich schlucke und schaffe es damit natürlich auch nicht, mein rasendes Herz zu beruhigen. „Mir war es klar. Zum einen seid ihr Zwillinge, die besten, und zum anderen kannst du deine Gefühle nicht einfach für einen Menschen verlieren, jedenfalls nicht, wenn es wahre, tiefe Liebe ist. Da kann er dich noch so verletzen und dein Hirn kann dir noch so oft sagen, dass es sich daran erinnern soll, aber du kannst nicht anders und willst ihm verzeihen und ihn bei dir haben", höre ich mich leise sagen, Gabriels Lippen verziehen sich zu einem ehrlichen, erleichterten Lächeln, während sie meinen näherkommen. Wir halten beide die Luft an, als wir nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt sind. Und verdammt, sofort passiert wieder das, was ich gerade gesagt habe. Mein Mund will sich verselbstständigen, will sich einfach nach vorne lehnen, meine Hände an Gabriels Rücken wollen nach oben in seinen Nacken rutschen, aber ich kann es nicht; nicht, wenn ich an meine Freunde denke und weiß, dass sie recht haben. Wenn ich daran denke, was für einen genialen Abend Gabriel hatte und dass er ihn genau so in Erinnerung behalten soll. Also löse ich mich gänzlich von ihm und trete aus seiner Umarmung zurück, Gabriel lässt die Arme hängen, bevor er sie schnell wieder vor der Brust verschränkt und sich an die Schränke lehnt. „Okay, ähm, was war denn noch so? Magst du noch etwas erzählen? Ich werde hier nämlich noch aufräumen, sodass du eh nicht pennen kannst", wende ich mich möglichst kühl von ihm ab und fokussiere meinen Blick auf die Spülmaschine. Was für tolle Teller. Wahnsinnig interessant, dieses Muster und der Löffel erst, ganz interessant, wie er gebogen ist. Einfach nur dahin schauen. „Das klang nach einem Hilf mir", brummt Gabriel und gähnt, ich schüttele den Kopf. „Nein, diesmal nicht. Morgen kannst du dafür ja alles übernehmen, aber heute lasse ich dich in deiner Glücksblase, außerdem stehst du so unter Strom und Adrenalin, da machst du eh alles kaputt", schmunzele ich und stapele seufzend die Teller, um sie in den Schrank neben meinem Mitbewohner zu stellen. Er rückt immerhin beiseite und lacht leise bei den Erinnerungen an den heutigen Abend. „Es war gut. Schwarz hat echt viel von Violett erzählt und – und in dem Kontext gefragt, ob wir mit nach Italien kommen", erzählt er nachdenklich, ich schaue ihn wieder an. Er begegnet meinem Blick und beißt sich auf den trockenen Lippen herum. „Wie jetzt? Aber schon für einen Urlaub?", hake ich nach, meine Stimme klingt viel zu hoch und unsicher, doch es scheint an ihm vorbeizugehen, stattdessen nickt er nur langsam. „Ja, nichts Langes. In zwei Wochen fahren die beiden und wollen eben, dass Dunkelblau, Grau und ich mitkommen, kein Plan, ob Bronze auch ...", murmelt er, ich knirsche mit den Zähnen. „Vermutlich nicht. In zwei Wochen fahren wir doch mit Bronze und den anderen beiden Mädels auf die Hütte", erinnere ich ihn langsam, er seufzt und wirft seinen Kopf an den Schrank. „Fuck, Mann. Ich meine, ich hab zugesagt, dass wir auch nur zu fünft fahren können. Das will ich ja auch probieren, aber es wird einfach fucking merkwürdig. Alleine mit den beiden Paaren, tagelang in so einer Wohnung. Und ich habe Angst, dass ich ihnen alles sage. Du weißt schon, bei ein paar Weinen oder Bieren abends in so einer italienischen Landschaft ... Da rutscht mir bestimmt so viel raus, Gott, ich werde mich outen und – und, und das sogar ohne, dass da jemand ist", flüstert Gabriel und lässt sich am Schrank nach unten auf den Boden rutschen, ich stelle seufzend die ausgeräumten Schalen ab und setze mich stattdessen neben ihn. Gemeinsam starren wir auf sein Bild, das wir über dem Sofa gegenüber aufgehängt haben und schweigen. „Ich weiß, dass so etwas schwer sein kann. Und ich hatte es leichter als du, das weiß ich auch. Aber ich dachte, du wolltest sogar heute alles sagen", versuche ich es sanft, er nickt und lehnt sich frustriert näher an mich. „Ja, heute. Alter, als ob ich das schaffen würde! Aber heute hätte ich danach immerhin gehen können! Dann bin ich total mit den beiden gefangen, mit ihnen allen. Das werden sie hassen und ich werde es auch –", überschlägt Gabriel sich fast und fährt sich durch die Locken, bis sie ihm in alle Richtungen stehen und er nur tief seufzt. „Das ist sogar besser für euch, schätze ich. Gabriel, dein Outing sollte nichts sein, wonach du wegrennst und die beiden wieder monatelang ignorierst. Du öffnest dich den beiden, damit sie dich – falsch, sie wissen, wer du bist. Nur kennen sie eine einzige Seite an dir nicht. Sie ihnen zu zeigen erfordert Mut, ja. Aber brauchst du den wirklich? Bei deinen besten Freunden? Brüdern? Sie lieben dich über alles und das wird daran nichts ändern. Es kann sein, dass Dunkelblau dann ausrastet, dich schlägt oder sich selber hasst, wie auch immer. Aber gerade dann, wenn ihr auf diesem engen Raum zusammen seid, werdet ihr euch schneller wieder annähern können. Verstehst du? Vielleicht ist der Urlaub sogar das Beste, was euch passieren kann. Dann seid ihr euch wieder näher als in den vergangenen Monaten und Wochen und ihr seid dann einander ausgesetzt. Wieder wie früher. Du bist immer noch sein Zwilling, mit dem er sich jahrelang ein Zimmer geteilt hat und mit dem er sich weinend vor seinem Erzeuger unter eurem Bett versteckt hat. Dem ihr zusammen die Stirn geboten habt, als er euch beschimpft hat. Er weiß, wer du bist und welche Ideale du hast, sonst hättest du damals nicht gegen euren Erzeuger gekämpft. Und er auch nicht, Gabriel. Und ihr habt eure Cousine, die er langsam annimmt. Du hast Schwarz, der hinter dir steht. Seit dem Moment an der Haustür hier kannst du dir sicher sein, dass er dich unterstützt. Vielleicht weiß er es sogar längst und er steht hinter dir, weil du sein Bruder warst, bist und immer sein wirst. Okay? Es wird alles gut werden. Und wenn du dich jetzt noch nicht bereit dafür fühlst, dann –", rede und rede ich, Gabriel schweigt einfach nur und lässt dann seinen Kopf auf meine Schultern sinken. Vorsichtig lege ich den Arm um ihn und ziehe ihn näher an mich; er lässt es geschehen und lässt sich von mir halten. „Was meintest du vorhin damit, dass du dich outest, obwohl da nicht einmal jemand ist?", murmele ich und streife mit meinen Fingern über seine nackte Haut kurz unterhalb seines T-Shirts, er schaudert und rückt näher an meinen Hals. Seine Locken kitzeln mich warm und vertraut, sein Atem geht in dem gleichen Takt wie meiner. „Na, dass ich nicht mal sagen kann, dass da eine Beziehung ist oder so. Also schon, dass da jemand ist, für den ich Gefühle habe, aber ... da ist halt keiner, für den ich mich jetzt oute. Nur für mich quasi und das ist komisch", nuschelt Gabriel und schließt die Augen an meinem Hals, ich lächele bei seinem Wimpernschlag und lege meinen Kopf auch sanft auf seinen. „Ich weiß, was du meinst. Aber es ist das Beste, wenn du es für dich und für die beiden tust, nicht für einen Partner. Würde dich jemand drängeln oder du das Gefühl haben, es für ihn tun zu müssen, das würde immer zwischen euch stehen. Wenn er nur dann mit dir zusammen sein kann. Am ehrlichsten und am authentischsten wird es auf die beiden sein, wenn du es für dich tust und wird am wenigsten nach einem Vertrauensbruch wirken, was merkwürdig klingt. Was ich meine ist, dass die beiden es vermutlich als Verrat empfinden, wenn du es ihnen nicht gesagt hast, wo ihr euch wirklich jeden emotionalen und körperlichen Scheiß erzählt habt. Aber wenn du keine Beziehung hast, sondern nur dich, und dich ihnen trotzdem anvertraust ...", rede ich vermutlich um zwei Uhr nachts irgendein wirres Zeug, doch Gabriel nickt langsam und verlagert sein Gewicht noch mehr auf mich, ich halte ihn und lehne mich ebenfalls an ihn. „Hm ja, wird schon scheiße, denen zu sagen, dass ich auf einen Kerl stehe und der nicht mal Interesse hat. Als was für ein schwuler Loser stehe ich denn dann da? Auch wenn ich nicht mal ... ja", brummt Gabriel, ich verpasse ihm einen Stoß und lache leise. „Rate mal, wer als genau so einer mit zwölf, dreizehn Jahren dastand. Auch wenn das eigentlich nichts ist, wofür man sich schämen sollte", seufze ich und würde bei der Erinnerung am liebsten den Kopf schütteln, „und ganz abgesehen davon besteht ja noch Hoffnung bei dir." „Ach, tut es das?", grunzt Gabriel und streift mit seinen Lippen ganz bewusst meinen Hals, ich nicke langsam. „Oh ja, du solltest dir mal etwas von mir abgucken und optimistischer werden." „Hmhm, das sollte ich wohl. Erzähl mal, wie dein Outing lief. Dann habe ich was zu lachen und weiß, dass meins vermutlich weniger kacke wird", lacht er wie immer dunkel, ich lache auf und rubbele ihm durch die Locken. „Wow, danke. Vor meinen Freunden war es ziemlich einfach, aber jap, ansonsten war es kacke in der Schule", stimme ich ihm zu und erinnere mich, wie dämlich viele Sprüche meiner Mitschüler waren. Natürlich waren nicht alle so, aber wir fünf sind endlich mal Luft gewesen, nicht diese lächerliche Freundesgruppe vom Dorf. Niemand hatte mehr über Marvins Dummheit, Maze' krampfhaftes Schweigen im Unterricht (sogar wenn er aufgerufen wurde, hat er nichts herausgebracht), Jannis' übertriebenen spießigen Style oder Edens „Männlichkeit" gesagt (manche Mädchen wollten sie nicht in der Umkleide haben, weil sie ja ein Junge sein könnte, wie sie rumläuft), als ich mich als schwul geoutet habe – ausgerechnet weil ich auf einen viel zu alten Neuntklässler gestanden habe, was dem Loser-Ruf von uns allen natürlich nur gerechter wurde. Die Einzigen, die damals zu uns gehalten haben, waren Andy und Levin. „Fuck, ich wünschte, ich könnte den Leuten jetzt noch eine reinschlagen. Dabei wäre ich einer deiner Mobber gewesen. Und war es auch jetzt irgendwie. Tut mir leid", höre ich Gabriel heiser flüstern, als ich mit den stockenden Erzählungen fertig bin; daraufhin nicke ich nur und verstärke den Griff von meiner Hand um seine Schultern. „Ich weiß", murmele ich und lächele, als er sich noch mehr an mich schmiegt, was fast gar nicht möglich ist. Seine Körperwärme ist gefühlt brennend heiß, sein Atem viel zu warm und sein Herzschlag meinem viel zu ähnlich. „Trotzdem muss ich noch was anderes fragen ... Kannst du mir helfen, alles für den Urlaub zu packen? Ich habe keinen Plan, was man braucht. Vor allem, wenn ich mir meine Sachen nicht mehr mit meinem Zwilling teile oder sogar zu dritt", murmelt Gabriel nach einer Weile, ich gluckse. „Ja, kann ich versuchen. Nur ist das für mich auch das erste Mal, keine Hilfe von den anderen zu haben – also keine Ahnung, wie man nur für sich packt", schmunzele ich, woraufhin Gabriel warm lacht und nach meinen anderen Hand greift, die sich nicht bereits bei ihm befindet. „Ich schätze, wir müssen das zusammen rausfinden", verkündet er ironisch feierlich und fährt über meinen Handrücken, sodass ich eine Gänsehaut bekomme. „Ich schätze, da muss ich dir zustimmen", erwidere ich lachend und verschränke unsere Finger ineinander, bis wir beide einander umklammern und schweigend auf sein Bild gegenüber starren.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt