Kapitel sechsunddreißig

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Gabriels Sicht 

Zum hundertsten Mal kontrolliere ich die Uhrzeit auf meinem Handy. Noch immer ist es nicht einmal sechs Uhr abends – fuck, was tue ich hier überhaupt? Mein Herz rast wie vor einem Kampf, den ich viel zu lange nicht mehr hatte. Scheiße, das sieht man mir voll an. Immer wenn jemand mit seinem dämlichen Auto vorbeirast, glotzt er dumm aus dem Fenster und mustert mich, wie ich an dem Stromkasten lehne und auf mein Handy starre.

Pat: Oh mein fucking Gott, ihr verpasst total was! Das Konzert ist der fucking Hammer!

Andy: Awww, seht ihr, wie er sich freut???

Mercedes: Nawww!

Grinsend öffne ich den Chat von uns sechs The Bad Ones – Mercedes kam betrunken auf den Namen für diese Kombination der Trios – und lese nicht nur im Teaser mit. Mein Zwilling schickt ein verwackeltes Selfie von Andy und sich; von seinem ersten Konzertbesuch. Die beiden sind extra drei Stunden gefahren, weil Andy spontan Konzertkarten für eine The Score-Imitation aufgetrieben hat und ihn einlädt. Ich finde es scheiße, dass ich nicht dabei bin, ja, aber schlimmer war es, Pat vorzuspielen, ich würde alleine daheim rumsitzen; aber nicht zu tragisch, für den Fall, dass sie doch dableiben. Aber scheinbar habe ich gute Arbeit geleistet und ihn davon überzeugt, dass er die geile Chance ausnutzen soll – wer weiß, vielleicht kann er da auch irgendwen anquatschen und für sich begeistern oder so.

Gab: Immerhin bin ich der heißere Zwilling

Pat: wenn du schon daheim bist

Pat: passt bei dir wirklich alles?

Gab: Klar, alles cool. Ich schaue einfach einen Film

Felix: Jetzt habe ich auch ein schlechtes Gewissen

Terra: Du hättest auch mit zu dem Italien-Wochenende fahren können! Ich würde euch allen gerne meinen Bruder vorstellen!

Felix: Er ist echt in Ordnung

Pat: DU magst einen anderen Menschen???

Gab: Brüder sind immer cool ^^

Mercedes: Eher beste Freundinnen XD

Terra: :P

Andy: Nawww

Gab: Jetzt reicht es aber mal mit eurem ganzen Kitsch

Mercedes: Dabei habe ich noch gar kein Bild mit meinem Babe geschickt ^^

Oh Gott. Hastig verlasse ich den Chat wieder und atme tief durch. Ich will weder jetzt Bilder von Raphaels hässlichem besten Freund sehen noch ein glückliches Selfie von Felix und Terra; obwohl ich mich natürlich freue, dass die beiden glücklicher denn je sind, wenn sie ihn sogar kurz nach Italien mitnimmt – sein erster Urlaub! Auch mal wieder ein erstes Mal, das wir drei getrennt voneinander erleben, während Pat dafür auch in einem Motel übernachtet, um auf seinem ersten Konzert zu sein.

„Da grinst aber jemand glücklich sein Handy an", höre ich Raphaels amüsierte Stimme. Fuck. Mir rauscht das Blut durch die Adern, als ich aufschaue und sehe, wie er das Fenster runtergelassen hat und mich aus dem Jeep angrinst. „Tja, sind halt mein Bruder und mein bester Freund", erwidere ich – möglichst lässig natürlich – und schiebe mir mein Handy in die Jackentasche meiner braunen Lederjacke, als ich zum Auto schlendere. Fuck, wie geht so was? „Sollte schon auf sein", Raphael grinst breit und tippt auf dem Lenkrad rum. Fuck, merkt er etwas? Unsicher hantiere ich an dem Scheiß-Griff herum, bis die dumme Tür aufspringt und ich vorsichtig ins Auto steige, ohne mir den Kopf anzuschlagen. Der Wagen ist von innen kleiner als gedacht; vor allem stickig. Am Boden liegt noch eine Fast-Food-Tüte, an diesem Spiegel hängen ein kleines Skateboard und bunte Chucks. „Sorry, hab es nicht mehr ganz sauber gekriegt", Raphael pustet schnell ein paar Essensreste von der Armatur und startet den Motor. „Was ist? Magst du dich nicht anschnallen?", er zieht die Augenbrauen hoch und ich greife schnell nach dem blöden Gurt. Es dauert, bis ich ihn zugemacht habe und ich frustriert die Zähne zusammenbeiße. „Alles gut bei dir?", er schaut verwirrt und fährt immer noch nicht los. „Hm ja", ich fahre mir durch die Locken, „nein." „Ist es, weil ich fahre? Findest du das jetzt unmännlich?", er schnaubt und unterdrückt ein Lachen, ich muss auch lachen. „Das hatte ich bis eben nicht im Kopf, aber das ist scheiße. Gott, jetzt fühle ich mich noch mieser, danke dafür. Fuck, jetzt sitze ich echt wie so ein peinliches, unerfahrenes Mädchen neben dir", ich drücke angespannt die Füße in den Boden und merke, wie es mir die Luft abschnürt. „Könntest du bitte aufhören, so sexistisch zu sein? Oder homophob, denn der Sinn bei einem Date von zwei Männern ist, dass eben keine Frau auf dem Date ist? Dementsprechend gibt es solche Rollen gar nicht ...", er hält inne und legt dann seine Hand sanft auf meine Schulter, „was ist los? Du siehst aus, als müsstet du gleich kotzen." „Ich bin noch nie bei jemandem mitgefahren. Also außer bei unseren Erzeugern", ich presse die Lippen zusammen und starre aus dem Fenster. Hinter Raphael ziehen die Autos vorbei und leuchten in der Dämmerung. „Aber ... Moment, du kannst nicht Auto fahren? Ihr könnt alle drei nicht Auto fahren?", hakt er nach und lächelt etwas. „Nein. Auch wenn das unmännlich ist, ich bleibe dabei", ich schnaube verächtlich und starre lieber auf die Ringe und Armbänder an meiner Hand. „Das ist ... das ist doch nicht ... oh man, Gabriel", Raphael schüttelt den Kopf und schmunzelt noch immer. „Ich finde es süß, dass du – halt, nein, nicht süß, dann bringst du mich um. Ich finde es cool, dass du das trotzdem alleine durchziehst und dass du mir das Vertrauen entgegenbringst", er stupst mich an und ich erwidere das Lächeln schwach. „Hm ja. Unser Erzeuger, er wollte unbedingt, dass wir Autofahren können. Nur Frauen können nicht Auto fahren. Aber wir hatten kein Geld, keinen Cent. Er wollte uns die Lizenz bei einem Kumpel besorgen, einem anderen aus dem Wald. Und wir sollten mit seiner Schrottkarre auf irgendeinem Kiesplatz üben. Pat wollte anfangen, ich saß neben ihm und unser Erzeuger, er saß hinten in der Mitte. Pat hat es irgendwie geschafft, dass der Wagen einmal quer über den Platz ohne Kontrolle an einen Baum geknallt ist. Es tat nur ein bisschen weh, aber ... das Schlimme war danach. Er hat uns geschlagen und verspottet, als Frauen und als Schwuchteln, weil wir sein Auto geschrottet haben. Zur Strafe wollte er uns erst in der Hütte einsperren, als ihm etwas Besseres eingefallen ist. Wir sollten das Geld zurückholen, indem wir mit Frauen gevögelt haben", höre ich mich alles erzählen, Raphaels Finger schließen sich sanft und warm um meine geballte Faust. Das Lächeln ist von seinen Lippen verschwunden, stattdessen blinzelt er und holt Luft. „Es tut mir leid, das wusste ich nicht. Der Spruch war dumm", er beißt sich auf die Lippen, ich schüttele den Kopf. „Nein, das konntest du nicht wissen. Es war klar, dass du mich und uns für so ... ja hältst. So sind wir auch", versichere ich ihm und würde am liebsten lachen. So sind wir. Wie unser Erzeuger. „Nein, so seid ihr nicht. Das habt ihr oft bewiesen. Und Felix? War es bei ihm ähnlich? Ich meine, er hätte ja auch den Führerschein machen können", deutet er an, ich lache auf. „Er? Nein, niemals. Nach unserer Erfahrung hätte er einen Scheiß getan. Wir haben ihm immer alles beigebracht, was er tun und lassen soll. Er hat sich nicht mehr getraut, sein Erzeuger war ja auch fast so scheiße, nicht ganz so unberechenbar, aber kommt aufs Selbe raus", plappere ich los und halte danach die Klappe. Fuck, was erzähle ich hier? „Oh Shit, sorry. Ich dachte nur ... weil du heute Morgen geschrieben hast, dass Dunkelblau und Grau zu diesem Konzert fahren und Schwarz und Violett nach Italien ...", deutet er an, ich schüttele erneut den Kopf. „Nein, mit den Motorrädern." „Oh", Raphael lacht unsicher und trommelt auf dem Lenkrad herum. „Willst du es abbrechen? Wir sind noch nicht losgefahren, also ...", deutet er an und grinst verschmitzt, ich verdrehe die Augen. „Gott, bitte behandele mich nicht so nett, das – fahr einfach los, es ist schon okay. Aber bring uns nicht um, sonst müsste ich einiges erklären", weise ich ihn an, Raphael lacht: „Als Leiche." „Ja! Jetzt mach!", ich haue ihm auf die Schulter – natürlich in seiner geliebten Jeansjacke – und lache auch. Er gluckst noch kurz, was irgendwie süß klingt und fährt eigentlich ziemlich lässig und entspannt vom Seitenstreifen auf die Straße. Bei ihm sieht es so verdammt einfach aus. Nicht so verkrampft wie damals bei unserem Erzeuger, als wir auf ihn angewiesen waren. Im Gegenteil, Raphael lacht viel und redet nebenbei mit mir, stützt sich ab und zu mal locker ab und lässt das Fenster runter, während ich Musik aussuchen soll. Es ist komisch, an der Musikanlage seiner Freunde herumzuspielen und die verschiedenen Ordner zu sehen. Die meisten haben ihre Namen als Titel, es gibt auch ein paar gemeinsame, von denen ich schnell den Imagine Dragons-Ordner nehme, alles andere wäre ja gänzlich unerträglich.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt