Kapitel fünfundvierzig

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Raphaels Sicht 

Ein lautes Klingeln reißt mich aus dem tiefen Schlaf. Shit, nein. Dieser verdammte Wecker. Knurrend schlage ich nach dem Teil, aber bekomme es nicht zu fassen. Falsche Seite. Widerwillig öffne ich die Augen und sehe tatsächlich nur den Teppich am Boden und nicht etwa meine Kommode; stattdessen nur den Laptop und zwei Teller, die voller Soße sind. Zwei. Oh verdammt. „Wie geht dieses verfickte Teil aus?", höre ich auch schon Gabriels verschlafene, durchaus genervte Stimme. Dunkel, rau und verrucht – ich grinse gegen meinen Willen und drehe mich auf die andere Seite, wo er sich gerade zu meinem Wecker beugt und darauf herumhaut. Lachend tippe ich ihm auf die Schulter und schnappe mir den Wecker, als er ihn mir genervt hinhält. Hastig schiebe ich den Hebel zurück und stelle dieses verdammte Teil ab – um gerade mal sieben Uhr. Mein Kopf brummt von dem wenigen Schlaf und die grelle Sonne, die durch den halb geschlossenen Rollladen fällt, tut mir ausnahmsweise nicht gut. Seufzend lasse ich mich wieder in die Kissen fallen und schaue rüber zu Gabriel, der sich im Kissen vergräbt und grummelt. Dass er so dicht neben mir liegt, irritiert mich. Dass er sich in meinem Bett befindet, verdammt! Aber ich erinnere mich dunkel, wie wir bis vor ein, zwei Stunden noch eine Serie angefangen haben, ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie sie hieß. Irgendetwas Übersinnliches, wenn ich an die Bilder zurückdenken, die vor meinem inneren Auge aufploppen. Doch am meisten erinnere ich mich daran, dass wir nach den Burgern und Dönern noch eine Tüte Chips geschlachtet haben und mit den Köpfen immer weiter aneinander gesunken sind, während wir diese Serie geschaut haben. Und dass wir so eingeschlafen sein müssen oder zumindest direkt danach. „Fuck, wir haben aber nichts gemacht, oder?", nuschelt Gabriel in mein Kopfkissen und fährt sich mit seiner Hand durch die blonden wirren Locken, in denen trockene Farbe klebt. „Nein, ich denke – nein. Keine Sorge", brumme ich und entspanne mich selbst bei meinen Worten. Der Gedanke, mit Gabriel in einem Bett zu liegen, ist viel zu verführerisch – verdammt, dabei sollte ich daran denken, was er alles getan hat. Mir angetan hat, verdammter Mist. Und trotzdem ist da nicht nur mein tadelndes Gehirn, sondern sind da auch mein viel zu schnell schlagendes Herz und mein schwerer Körper, der sich aber leichter anfühlt, wenn ich Gabriel berühre. Nur flüchtig streife ich mit meinem Fuß seinen unter der Decke, aber er hebt bereits den Kopf und seine dunkelblauen Augen landen direkt auf mir. Er blinzelt und schaut dennoch auffällig unauffällig an sich herunter, wo er aber noch sein T-Shirt und seine Jogginghose trägt. „Ich denke mal, für dich wäre es schlimmer, hätten wir was gemacht", murmelt er dann heiser, ich huste und richte mich dabei auf. „Was? Nein! Ganz und gar nicht. Also ...", ich lache verlegen und ärgere mich, dass er mich so aus der Reserve gelockt hat. Er grinst breit und stöhnt dann auf. „Scheiße, ich bin echt müde und du Penner stellst den Wecker einfach so früh. Mann, ich habe mir so etwas ganz anders vorgestellt", stöhnt er und zieht mir die Decke weg, ich schnappe danach und reiße daran, aber er umklammert sie viel zu fest. „Vorgestellt? Ich bin gerade echt verwirrt. Du hast dir das mit mir vorgestellt und außerdem – ", setze ich an und er fällt mir ins Wort, indem er laut und tief durchatmet. „Das ist mein erstes Mal. Also ... ich ... wir ... eine Regel in unserem Kodex war immer, dass wir nicht mit Leuten, Frauen, in einem Bett schlafen. Viel zu intim und verletzlich und so. Das habe ich dementsprechend noch nie getan", er schluckt und sieht mich tief an, ich schlucke ebenfalls hart und merke, wie mein Herz noch schneller schlägt. Der dumme, naive Teil in mir freut sich, dass Gabriel das gesagt hat. Und vor allem, dass er es so empfindet, denn dann könnte ich – nein, auch dann sollte ich das alles davor nicht einfach vergessen. Aber er macht es mir so schwer, es nicht zu vergessen. „Nicht mal in dieser einen Nacht?", hake ich nach, um uns beide zu quälen. Verdammt, das ist das, woran wir beide denken sollten. „Nein. Selbst an meinem tiefsten Tiefpunkt habe ich daran gedacht und es nicht gewollt. Ich meine klar, der Kodex war da echt scheißegal, aber ich wollte diesen Moment trotzdem nicht mit einer wildfremden Frau teilen, das ... keine Ahnung. Da habe ich lieber besoffen und mit Drogen vollgepumpt am Boden geschlafen", gesteht er und hält unsicher meinen Blick fest, ich lächele. „Und jetzt?", ich sehe ihn an und halte unbewusst die Luft an, er schweigt und spielt an meiner Decke herum. „Ich weiß es nicht. Was ich denken soll. Einerseits fühlt es sich krass an, das jetzt gemacht zu haben und andererseits fühle ich mich so entspannt und locker, als wäre das normal, als wäre das der Alltag. Oder könnte es werden. Und dann bin ich wieder schockiert von mir selbst. Nicht mal deinetwegen, sondern dass ich so romantisch oder nett bin oder wie auch immer", er lacht verlegen über sich selbst und ich stoße ihn sanft an. Gabriel schaut mich nur abwartend an und streift mit seinen rauen Händen, an denen er sogar noch die Ringe trägt, über mein Bein und zieht scharf die Luft ein. „Wenn du willst, dass es zum Alltag wird ...", deute ich an, er hebt die Augenbrauen und schaut noch immer ein wenig gefoltert von meinen Worten oder zumindest erträgt er es nur schwer, wenn sie laut und schwer in der Luft hängen. „Willst du es? Ich meine immer noch? Wieder?", haucht er fast lautlos, ich schmunzele und zucke mit den Schultern. „Was meinst du? Hätte ich dich sonst hier einziehen lassen? Na gut, ja, aber auch das gestern? Paintball, essen und wieder Netflix schauen?", ich grinse ihn an und er lacht leise. Es ist vermutlich sein ruhigstes und entspanntestes Lachen bisher. „Wieder? Wir haben zum ersten Mal persönlich Netflix geschaut", grummelt er, ich lache und genieße einfach nur den Anblick von ihm auf meinen Kissen. „Ja, nachdem wir monatelang am Telefon geschaut haben. Oh, nicht zu vergessen den Titanic-Abend", erinnere ich ihn grinsend, vielleicht etwas sehr dämlich, und Gabriel lacht auf; seine Wangen wirken sogar etwas dunkler. „Wir könnten so einen Abend wiederholen", er grinst übertrieben schmutzig, ich boxe ihn spielerisch und er greift nach meiner Faust. Andächtig fährt er mit seinen rauen Fingerspitzen über mein Handgelenk und über die getrocknete Farbe, die ich noch nicht abgewaschen habe, über die kleinen Narben vom Herumalbern auf Bergen und Feldern mit den anderen, bis er das Tattoo erreicht. Gerade, als er etwas sagen will, fahre ich zurück: „Shit! Ich habe den anderen versprochen, in der Mittagspause zum Shop zu kommen!" „Shop? Mittag? Es ist gerade mal viertel nach sieben", Gabriel seufzt und dreht sich wieder auf die Seite, ich klettere über ihn und werfe mich extra auf ihn, er stöhnt nur lachend und ich spüre für eine Sekunde seine Hand auf meinem Hintern, dann zieht er sie schnell zurück und schaut mich möglichst hart und kalt an. „Für dich vielleicht! Gott, ich muss sofort los und Frau Ruter helfen! Und zum Shop, in ein paar Tagen ist die Eröffnung, direkt nach dem Urlaub!", drehe ich langsam durch und stürze zum Schrank, um mir irgendwelche Sachen rauszuziehen und damit loszustürmen. „Na gut! Erzähle dann mal, wie es lief. Oh, du hast doch nichts dagegen, wenn ich nach Monaten wieder in einem weichen Bett schlafe, oder?!", brüllt Gabriel mir zu, als ich gerade die Badezimmertür hinter mir schließen will. „Eigentlich sind es Jahre! Jahrzehnte!", rufe ich feixend und lache, „aber mach ruhig!" Es kommt keine Antwort mehr und das ist auch besser so – wer weiß, ob ich Idiot dann nicht wieder zu ihm zurückrennen würde.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt