Gabriels Sicht
Ich schwebe zwischen einer wahnsinnigen Euphorie und einer erdrückenden Schwere in meinem Magen, als ich die Bierflasche an meine Lippen setze und nach vorne auf die Bühne der Karaoke-Bar schaue. Andy hat ihre Augen geschlossen, ihre roten Haare fallen ihr in die Stirn und ihr Hemd rutscht ihr ein wenig von den Schultern, als sie emotional einen Song singt. Nicht einen, Pats verdammten Song. Mein Zwilling neben mir starrt nur nach vorne, seine Hände zittern und ich nehme ihm langsam die Bierflasche ab, um sie auf den Tisch zwischen uns zu stellen. „Mamma mia, ist es das, was ich denke? Ist das Pats Song?", höre ich Terra Felix zuflüstern, der ebenso stocksteif neben mir steht und dann langsam einen Blick mit mir austauscht. „Ja, aber anders interpretiert", murmelt Felix abwesend seiner Freundin gegenüber und rempelt mich leicht mit der Schulter an. Schon klar, er macht sich Sorgen. Welche, die gar nicht berechtigt sind – na gut, zur Hälfte. Es schlägt mit aller Wucht bei mir ein, dass Andy Pat fucking liebt und er sie auch. Dass das beschissene Liebe ist und sie diesen Scheiß-Platon-Hälften füreinander sind – und andererseits macht mich das so glücklich für ihn. Genau wie vor Monaten, als sie sich hier zum ersten Mal geküsst haben. Dieser eine Moment, in dem man seinen Zwilling, seinen Bruder und seinen besten Freund so unfassbar fokussiert auf jemand anderen sieht, ist verdammt hart. Und gleichzeitig erleichternd zu wissen, dass er jemanden hat. „Ist das jetzt gut oder schlecht?", murmelt Terra und sieht uns Männer fragend an; scheinbar wusste sie gar nichts von der geplanten Aktion ihrer besten Freundin. „Auf jeden Fall ihr Weg, sich nochmal zu entschuldigen", erwidert Felix leise und ich nicke nur. „Und nach einer Beziehung zu fragen. Fuck, das ist schon beinahe eklig", ich verziehe das Gesicht und Felix schmunzelt: „Stimmt, das ist echt ekelhaft kitschig." Immerhin das erleichtert mich. Dass er nicht auch so verweichlicht ist, obwohl er jetzt so etwas wie mit Terra zusammen ist. „Was redet ihr da eigentlich die ganze Zeit, Alter?", Pat stößt mich von der anderen Seite hart in die Rippen, ich stöhne leise auf und drehe mich zu ihm. Seine, meine, Augen huschen hin und her, sie wirken so hell und offen wie lange nicht mehr. Total emotional und aufgewühlt. Aber ich verstehe es, schon alleine, weil sie seinen Song singt. „Nichts, nichts", raune ich ihm zu und lege den Arm um ihn, Pat grinst und wirkt dennoch unsicher. Gefesselt schaut er nur nach vorne zu Andy, die die letzten Töne singt und dann die Augen öffnet. Ihre und Pats Blicke kreuzen sich und ich muss ebenfalls schlucken. „Fuck, Mann", Pat schaut mich hilfesuchend an, ich hole tief Luft. „Geh hin und küsse sie, Pat", höre ich mich sagen. Er knackt mit dem Kiefer und sieht mich durchdringend an. „Sicher? Ich ... sie hat gerade meinen Song gesungen. Vor hundert Leuten, Mann! Meinen Song. Und sie ... sie hat ihn anders interpretiert und ich weiß nicht, ob ich sie dafür hassen oder lieben soll", flüstert er und doch hört es sich so verdammt laut an. „Du liebst sie. Sag ihr das", rate ich ihm heiser. Vor Stolz und wegen der Erkenntnis, dass jetzt nochmal alles anders ist. Dass ich jetzt noch mehr alleine bin, obwohl ich natürlich meinen besten Freund, meinen Bruder, und deren Mädels habe. Als würde er genau den Gedanken hören, legt Felix den Arm um mich, als Pat lässig nach vorne geht. Trotzdem erkenne ich als sein Zwilling deutlich, wie er sich die schwitzigen Hände an der Jeans abwischt, wie er sich panisch durch die Haare fährt und wie er schluckt, bevor er vor Andy stehen bleibt. Er murmelt etwas, das ich nicht höre, obwohl es unendlich still in der Bar geworden ist. Sie erwidert etwas und er reißt sie daraufhin hart an sich, um sie energisch zu küssen. Selbst wenn ich es nicht wollen würde, muss ich grinsen. „Ich bin stolz auf dich", raunt Felix mir ins Ohr und klopft mir auf den Rücken, während er noch immer nicht von meiner Seite weicht. Dankbar nicke ich ihm zu und schaue kurz Terra an, die lacht und laut pfeift. „Ich übrigens auch auf dich", brumme ich nach einer Weile und sehe Felix tief an, um dann auf seine Freundin zu nicken. Er schmunzelt und streift kurz mit seinen Fingern Terras Taille. „Ich weiß. Sie ist toll. Und sie liebt Pat und dich", erwidert er leise und ich nicke wissend. „Ja, wir sie auch irgendwie", meine ich es ernst. Terra ist wirklich cool und sie gibt sich große Mühe, in unsere Runde zu passen – sie ist zwar nicht gerade sozial und der Gruppenmensch, aber das sind wir von Felix gewohnt. Außerdem passt sie auch zu Andy – und damit auch wieder zu uns. Ich würde keine der beiden umtauschen, auch wenn ich das immer wieder vergesse. Nur vielleicht mein eigenes Leben. Noch immer fühlt es sich scheiße an, mit zwei Paaren unterwegs zu sein. Auch wenn sie sich Mühe geben, fühle ich mich ausgeschlossen. Schon alleine, weil mir diese Erfahrungen und Gefühle fehlen. Weil ich es nie ganz so verstehen werde, nur annähernd mit – nein, verdammt. Nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt sollte ich an Raphael denken. Schluckend tue ich den Gedanken ab und verbanne seine Instagram-Nachrichten aus meinem Kopf. „Du warst sooo gut!", schreit Terra in meine Gedanken und ich blinzele. Sie springt zu Andy und die beiden schlagen lachend ein und umarmen sich danach doch noch. Schmunzelnd beobachtet Pat das Ganze und schlendert dann neben Felix und mich und greift nach seinem Bier. „Wird langsam auch eine Tradition, oder?", scherzt Felix und ich lache leise auf, Pat ebenfalls. „Ich hoffe doch nicht. Jetzt muss ich noch warten, bis ich wieder auf die Bühne kann", murmelt mein Bruder und spielt an dem Hals seiner Flasche herum. Verwirrt runzele ich die Stirn: „Du? Wieso du? Wir haben doch heute schon zu dritt gesungen, Whatever it takes." „Ja, aber ich wollte noch was machen", murmelt mein Bruder und weicht meinem bohrenden Blick aus. Unsicher schaue ich zu Felix, der unwissend mit den Schultern zuckt. Solange Pat jetzt nicht auch für Andy singt.
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Repressed Colours (Band 1)
Roman d'amourBunt und düster. Warm und kalt. Frei und wild. Treu und loyal. Raphael und Gabriel. (Band 1) Unterschiedlicher könnten ihre Welten nicht sein und doch vermischen sie sich: online und im realen Leben. Das bunte Quintett der besten Freunde Raphael, Ma...