Kapitel sechsundfünfzig

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Raphaels Sicht 

Gott sei Dank ist der Abend auch irgendwann vorbei, nachdem Gabriel, Pat und Felix sich noch Pommes und irgendwelche scharfen Teigtaschen bestellt haben. Ich habe absolut nichts mehr runterbekommen und trotzdem ist mir jetzt echt schlecht; es könnte aber auch daran liegen, dass ich unfassbar angespannt gegessen habe. Nicht nur gegessen, auch jedes einzelne Wort habe ich vorher überdacht und einen unauffälligen Blick zu Gabriel geworfen, der meistens seine Augen bei seinem Zwillingsbruder hatte. Auch jetzt schaut er gerade seinen Bruder an, der dreckig lacht und die Arme verschränkt. Unbehaglich werfe ich einen Blick auf Felix, der mir gegenübersitzt und mich unbewegt mit seinen giftgrünen Augen anstarrt; ansonsten spielt er nur an seinen dunklen Ringen. Wie Gabriel gesagt hat: An ihm ist wirklich alles schwarz, selbst sein Humor. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass sein bester Freund mich nicht ganz so sehr aufschlitzen möchte wie sein Bruder, der einen komischen Blick in meine Richtung wirft. Das geht schon den ganzen Abend lang so. „Okay, dann zahle ich mal", Gabriel räuspert sich und steht endlich vom Tisch auf, keiner von uns protestiert. Ich weiß nicht, ob es mein Job wäre, jetzt zu zahlen, aber keiner schaut mich an. „Warten wir schon mal draußen?", höre ich Felix Pat fragen – als keine Antwort kommt, starre ich in seinen kalten Blick. Oh. Oh Shit. „Oh, du meinst mich? Sorry! Klar", ich schlucke und erhebe mich langsam vom Stuhl. Meine Beine kleben fest, so sehr habe ich den ganzen Abend lang (nicht nur wegen der Hitze) geschwitzt, aber immerhin schmeiße ich den Stuhl nicht um oder so. Viel Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen, habe ich eh nicht. Es besteht immer noch die leise Möglichkeit, dass Felix gleich zuschlägt oder ausrastet, aber eine andere Wahl habe ich eh nicht – es sei denn, ich will mit Pat am Tisch sitzen und das wäre noch schlimmer. Also eile ich lieber Felix nach, der mit großen Schritten den leeren Laden verlässt und die Tür auftritt. Nervös folge ich ihm nach draußen in die warme Sommernachtluft und zu den lauten Gesprächen von Besoffenen gegenüber, die zu uns rüber dringen. „Ich wollte dir nur danken. Besser ohne Pat, er ist – schwierig. Aber er ist kein schlechter Mensch und auch kein schlechter Freund. Er wird dich schon noch akzeptieren, es liegt gar nicht an dir als Person, eher ...", deutet Felix an, ich nicke: „An meinem Schwanz und meinen Freunden, jap." „Ja", Felix vergräbt die Hände in den Hosentaschen und lehnt sich an die Hauswand. Abwartend stelle ich mich neben ihn und atme tief durch. „Also wie gesagt, tut mir leid, dass der Abend so schwierig war. Wir sind einfach nur vorsichtig, was neue Menschen angeht. Also vor allem ich, ich hasse allgemein die meisten Menschen, nimm es nicht persönlich", er lacht dunkel und dreht sich dann zu mir. „Okay", stammele ich nur und lächele überfordert. „Wirklich jetzt. Du wirkst gar nicht so scheiße, im Gegenteil. Ich bin dir sehr dankbar, dass du ... na, dass du Gab liebst. Er hat es echt verdient und so. Und es tut mir leid, falls wir dich jetzt so vollkommen verjagt haben und auch, dass wir dir in den letzten Monaten so viel eingebrockt haben. Gab war nur so ein Wichser zu dir, weil wir es von ihm erwartet haben und weil wir ihm auch ziemlich viel zugemutet haben. Es war nie der Plan, dass er ... dass er das alles an jemandem auslässt. Fuck, wir wussten ja nicht mal, dass da jemand war. Also ... danke", Felix' Lächeln wirkt immer noch etwas befremdlich, aber ernst. Und vor allem verdammt überraschend. „Oh ... ich – ich habe eigentlich gar nicht so viel gemacht", winke ich ab und strahle viel zu sehr für die Worte. Felix schüttelt den Kopf: „Du hast verdammt viel gemacht. Du liebst ihn wirklich krass und du warst für ihn da, als es sonst keiner konnte. Und du hast ihm verziehen. Ohne dich hätten Pat und Gab sich auch nicht wieder versöhnt." „Wow, ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll", gestehe ich leise und grinse vor mich hin, Felix nickt: „Schon okay. Aber wenn du ihn verletzt, dann bleibt es dabei, dass wir dich als verbrannte Leiche im Wald verscharren." „Jap, ich weiß", ich lache unsicher und fahre herum, als sich die Tür öffnet. Die Zwillinge kommen Schulter an Schulter nach draußen. „Scheiße, habt ihr gerade geredet? Aber jetzt nicht, wie dumm wir sind, oder?", Pat legt den Arm um Felix, der breit grinst. „Er beleidigt uns bei jeder Gelegenheit", Gabriel verdreht die Augen und boxt seinen besten Freund, der mit den Schultern zuckt: „Aber verständlich. Raph, was sagst du, sind die beiden dumm?" „Alter! So war das nicht gedacht, dass du jetzt einen Verbündeten hast", Gabriel schubst ihn und die beiden albern herum, während Pat mit nach hinten stolpert, weil er ja noch den Arm um Felix gelegt hat. Beruhigend, dass die drei auch mal so drauf sein können. Also schaue ich nur zu, bis sie sich wieder einkriegen und sich dann auf den Weg zu den Motorrädern machen, wo ich auch meins geparkt habe. „Scheiße, echt jetzt?", Pat klopft auf meinem Motorrad herum und kniet sich vor den Auspuff. „Was stimmt nicht?", ich trete vorsichtig neben ihn, er richtet sich auf und mustert mich mit verkniffenen Augen: „Mercedes hat auch eure Motorräder aufgemotzt?" „Ja? Sie gehört ja auch zu unserer Familie, wenn sie mit Marvin zusammen ist", entgegne ich und greife vorsichtshalber nach meinem Helm; schaden kann der Schutz jedenfalls nicht. „Hmpf", Pat knurrt und steigt dann auf sein eigenes Motorrad. „Oh Shit, so sollte das jetzt nicht klingen! Damit wollte ich mich keinesfalls in eure Familie inkludieren!", verbessere ich mich und schaue zerknirscht. Gabriel schaut betreten zu Boden und fummelt an seinem Helm herum, Felix wirft Pat einen Blick zu. „Was? Raph hat recht, er gehört noch lange nicht zur Familie. Das sind nur wir drei und wenn überhaupt Andy, Terra und noch vielleicht Mercedes. Punkt. Und halt Clara, aber ... wir machen hier nicht einen auf große Familie mit den fünf Trotteln und dem ganzen Anhang", schnaubt er entschieden, Felix nickt langsam: „Das nicht, aber er ist der Freund von Gab." „Auch schon gemerkt", faucht Pat und funkelt mich an. Oh oh. „Pat, jetzt reiß dich endlich zusammen", ermahnt Felix ihn, Gabriel kann nur schweigend danebenstehen und zwischen seinem Zwilling und mir hin und her schauen. Schluckend will ich meinen Helm aufziehen, aber Pat muss natürlich weiterreden. „Mache ich! Aber es ist halt echt schwer anzunehmen! Ich gebe mir ja schon Mühe! Und ich bin sogar dazu bereit, meinen Arsch und mein geiles Gesicht für den Kerl da zu riskieren. Nur kriege ich es eben auch ab, wenn der da in unserem Leben ist! Natürlich würde ich ihn vor unseren Erzeugern schützen, weil er zu Gab gehört. Und natürlich werde ich das ertragen, weil er ihm wichtig ist, aber ich bade es auch mit aus! Beim Boxen und bei der Musik und überall. Auf mich fällt es genauso zurück, am Ende werden wir sogar verwechselt. Fuck, das soll jetzt nicht homophob sein oder so. Es ist einfach nur krass, das jetzt alles auf die Reihe zu kriegen", Pat holt Luft und sieht seinen Zwilling an. Es ist einer dieser Blicke, die ich nie verstehen werde und es ist okay, weil ich sehe, dass es Gabriel vervollständigt. „Du würdest ihn vor unserem Erzeuger verteidigen?", Gabriel schaut ihn atemlos an, sein Bruder nickt: „Mit meinem Leben. Weil er zu deinem gehört. Ich meine, du hast Andy zusätzlich verteidigt, weil du sie liebst. Sorry, dass ich das nicht auch sagen kann, aber ... ich gebe dem Trottel ja eine Chance." „Danke, das erleichtert den Trottel", ich lache unsicher über meinen Spruch, doch scheinbar ist er nicht ganz übel. Gabriel grinst mich an, sogar Pat zieht die Augenbrauen hoch. „Schön. Aber nicht mit deinen Freunden. Na gut, von mir aus auch mit denen. Dann erwarte ich aber, dass die sich nicht mit den Frauen treffen oder die anquatschen oder so eine Scheiße", knurrt Pat mich an, ich nicke. „Klar. Also ich meine, ich will doch auch nicht so eine riesige Familienvereinigung. Ich will einfach nur mit deinem Bruder zusammen sein, das ist alles. Und im Übrigen sind meine Freunde übrigens keine Arschlöcher und haben euch nicht mit Absicht ... so ... in eurem Stolz ... euch ... ähm etwas mit den Frauen gehabt. Das war alles vor eurer Zeit und auch echt etwas anderes. Auch wenn das jetzt vielleicht ungut zu erwähnen ist, aber ... Maze liebt Deli und ganz sicher nicht Andy. Das wusste keiner von uns, das haben wir erst durch dich erfahren und ihm verziehen. Und du hast Andy auch verziehen, weil du scheinbar auch realisiert hast, dass es Jahre her ist. Da läuft nichts mehr. Genauso wenig wie von Jannis aus, ich meine das mit Terra war ein verzweifelter One-Night-Stand, mit dem er Iasmin eifersüchtig machen wollte. Die beiden haben doch nichts vor oder so, im Gegenteil. Sie wollen einfach nur glücklich mit ihren Mädels sein. Und Marvin liebt Mercedes wirklich, obwohl sie euch oft uns vorzieht, weil sie mit Andy und Terra gerne Zeit verbringt. Was ich sagen will ist, dass wir auch an dem ganzen Krieg zu knabbern haben und ihn auch nicht wollen. Im Gegenteil", plappere ich darauf los. Keine Ahnung, ob das so klug ist, aber immerhin schweigt Pat und nickt dann: „Aha." Keine Gegenworte? Immerhin etwas. „Klingt doch ... nett. Das ist gut zu wissen", Felix greift nach seinem Helm und schaut mich dann unsicher an. Erst ballt er die Faust, diese komische Geste der drei, dann klopft er mir doch nur kurz nett auf die Schulter. „Man sieht sich. Vielleicht kommst du ja mal wieder mit oder so", verabschiedet er sich überfordert, ich nicke: „Ja, vielleicht, wenn ich nicht störe oder so." „Wird schwer, aber man findet schon was. Und denk an die Drohung", Pat nickt mir zum Abschied zu und zieht seinen Helm auf, ich atme tief durch. Er hat mich echt nicht umgebracht, nicht mal richtig beleidigt – gut, etwas, aber es bleibt echt noch im Rahmen. „Na los, fahre mit den beiden noch ein Stück und analysiert den Abend oder trinkt Bier oder so. Ich kann alleine heimfahren", wende ich mich an Gabriel. Es ist das erste Mal heute Nacht, das ich ihn irgendwie so direkt anspreche. Gott, ich habe echt keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll oder was ihm zu viel ist. Klar, wir wissen alle, dass Gabriel und ich ein Paar sind – mit Sex, Gefühlen und all dem anderen Zeug, für das Pat mich ablehnt. Aber es auszuleben und ihm vorzuführen, wäre dann doch nochmal etwas anderes. „Sicher? Das wäre doch scheiße", Gabriel wirkt unsicher, wie er mit mir reden soll. Beinahe ist es niedlich. „Na los, redet noch über den Abend oder was auch immer. Es ist wichtig für euch", ich würde ihn am liebsten anstupsen, aber halte mich zurück. Noch einmal schaut er mich an und vergewissert sich, ob ich cool damit bin. Ich nicke ehrlich und grinse ihn an, dann grinst er ebenso breit und zieht sich den Helm über. Kein Kuss, keine Umarmung. Aber es ist okay. Es ist wichtig für ihn, also lasse ich ihn mit den anderen beiden fahren.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt