Kapitel sechs

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Raphaels Sicht 

Mein Kopf fällt immer wieder ins Nichts, als meine Ellenbogen, auf die ich ihn stütze, immer wieder vom Tisch abrutschen. Hastig schaue ich mich im Hörsaal um, aber niemand hat Notiz davon genommen. Im Gegenteil, die eine Hälfte der Studenten blickt interessiert an die Tafel und schreibt fleißig mit, die andere – eher im hinteren Teil – liegt auf dem Tisch, schläft, oder ist am Handy. Etwas, das ich eigentlich nicht für das Semester geplant hatte. Bisher ist alles anders verlaufen als ich dachte, selbst das wiederholte Trinken am Vorabend vor einer Lesung mitten in der Woche. Kopfschüttelnd über mich selbst starre ich auf meine unordentlichen Notizen, in denen ich nicht mal selbst die Namen der Psychologen lesen kann, geschweige denn ihre Theorien und Modelle. Dabei liegt es nicht mal einem Kater, den habe ich nicht, sondern an dem Schlafmangel. Wer außer mir ist auch so doof, bis drei Uhr nachts mit einem fremden Typen zu chatten, der eigentlich ziemlich unfreundlich und undankbar ist? Andererseits hat er sich bedankt und Sprüche gemacht, die er nüchtern sicher wieder bereuen wird. Hab ja jetzt dich. Vermutlich nicht lange, sobald mein Dienst getan ist, wird er sich wieder mit seinem Bruder verstehen, was mich ehrlich freuen würde. Es fühlt sich nur komisch an, einem Fremden zu ... helfen? Schreiben? Antworten? „Also mal ehrlich, ich glaube, hier hört mir niemand zu!", dringt jetzt die laute Stimme meines Professors an mein Ohr. Wesentlich lebendiger als sein sonst so monotoner Monolog, den ich eigentlich mit Spaß verfolge. Vereinzelt ist ein „doch" zu hören, die letzten Reihen lachen nur oder schweigen ihn weiterhin an. „Dann kann ja einer von Ihnen meinen Job übernehmen. Na los, erklären Sie mir mal das Instanzenmodell, das Sie hier sehen", fordert er süffisant und doch ein Stück weit beleidigt, dass niemand ihm aushelfen kann. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen und ich krame möglichst leise in meinem Rucksack, um meine Brille zu holen, um die kleine Folie an der Wand zu erkennen. Eigentlich will ich mich an dem Frühstück, das die anderen mir eingepackt haben – wie hätte ich ahnen sollen, dass ich den Wecker überhöre, dann Jannis wieder das große Bad blockiert, Marvin das Bad der Stiefgeschwister genommen hat, ich mich deshalb nicht frischmachen und frühstücken konnte –, vorbeiwühlen, doch ich bleibe an etwas noch viel Interessanterem hängen: Mein Smartphone zeigt mir eine neue Nachricht auf Instagram an. Sofort pocht mein Herz schneller und nicht etwa, weil ich mich dazu entschlossen habe, mich zu melden und dieses Modell zu erklären. Meine Neugier ist zu sehr entfacht – auch wenn ich trotz meines Optimismus davon ausgehe, dass es sich nur um einen Bot handelt, der mich in irgendeine Gruppe hinzugefügt hat und einen Link mit mir teilen möchte. Dennoch juckt es mich zu sehr in den Fingern, sodass ich noch weiter unter die Bank rutsche, das Handy in der Tasche lasse und meinen Kopf beinahe in den Rucksack stecke, um etwas zu erkennen. Automatisch entsperre ich das Display und öffne die Nachricht.

it'sjustafuckingpainting: was ist mit deinen Freunden? Wir haben gestern nur stundenlang über meine geschrieben

Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Dass er zurückfragt, hätte ich nicht gedacht. Und, dass er nüchtern schreibt. Und gerade online ist.

it'sjustafuckingpainting: hat der Grüne seine Ex eifersüchtig machen können?

psychologistandoptimist: Nein, er hatte wohl ein heißes Mädchen, die ist ihm aber verloren gegangen XD Also jetzt sucht er sie überall und will sie finden, möglichst bevor seine Ex unsere Nachbarin wird

it'sjustafuckingpainting: Nachbarin??? Muss ja hart sein

psychologistandoptimist: a ja da spricht der Beziehungskenner ;)

it'sjustafuckingpainting: wieso braucht man denn ne Beziehung? Da hätte ich gerne eine psycho Erklärung für

psychologistandoptimist: besser nicht, das wäre zu deprimierend für mich

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt