Kapitel fünfzig

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Raphaels Sicht 

„Schleichst du dich gerade etwa raus?", grummelt Gabriel müde in die Kissen. Seine Stimme klingt sexy, weil sie noch so rau und dunkel ist, was mich grinsen lässt. Schmunzelnd drehe ich mich zum Bett, auf dem er nur in Boxershorts liegt und mich anblinzelt, während er die Decke von sich schiebt. „Tatsächlich nicht. Wäre auch irgendwie langfristig dumm, schließlich ist das mein Elternhaus und wenn wir heimfahren, sind wir wieder Mitbewohner", lache ich leise und tippe mit den Fingern auf der Tür herum. „Ich gehe nur zum Bäcker. Morgens ist die Luft auf dem Dorf fast so schön wie im Urlaub und irgendetwas muss ich ja für meine Eltern tun", erkläre ich dem Typen, dem ich gestern einen geblasen hab. Oh man. Ich bin sicher, dass sich meine Wangen etwas dunkler färben, auch wenn es für mich nichts Außergewöhnliches ist. „Und wir könnten auf dem Weg reden", grunzt er und fährt sich übers Gesicht, ich nicke. „Das sollten wir wohl", erwidere ich und komme nochmal weiter ins Zimmer, um den Rollladen hochzuziehen und Gabriel eine meiner Joggingjacken zuzuwerfen. „Hm?", er zieht die Augenbrauen hoch, als er sich aufsetzt und gerädert aus dem Bett rutscht. Dass er überhaupt aufsteht, ist ein Wunder. Und etwas, das mich grinsen lässt, weil es womöglich meinetwegen sein könnte. Daheim steht er nicht vor neun Uhr auf, meistens erst mittags – aber hier? Oder er will einen guten Eindruck hinterlassen. „Du kannst natürlich auch in Lederjacke zum Bäcker gehen", ich zwinkere ihm zu und er seufzt genervt. „Also gestern durfte ich hier so reinspazieren und auch mit Armbändern und Ringen, aber nicht zum Bäcker?", hakt er nach, ich schaue zerknirscht. „Ja. Das sind meine Eltern, da will ich, dass du du selbst bist. Aber bei dem Gerede vom Dorf ... Sagen wir es so, es wird schon genug auffallen, wenn du bei mir bist", gestehe ich, Gabriel nickt wissend und kramt dann in seiner Tasche nach einem braunen T-Shirt, über das er meine dunkelrote Jacke mit der lilafarbenen Schrift zieht – natürlich sitzt sie eng auf seinen breiten Oberarmen, aber sie passt gerade noch. „Okay, das fühlt sich komisch an", nuschelt er und näselt an der Jacke herum, ich knuffe ihn in den Arm und schlüpfe bereits aus dem Zimmer, als er noch in seine Jeans und seine braunen Chucks schlüpft. Schlurfend folgt er mir nach unten und schaut sich genauer im Hausflur um, solange ich noch Geld und den Haustürschlüssel meines Vaters einstecke. Draußen ist es genauso still wie im Haus, nur die Kirchenglocken und entfernt eine S-Bahn sind zu hören sowie Vogelgezwitscher und ein paar summende Bienen. „Irgendwie gruselig. Aber auf so etwas stehst du?", Gabriel grinst verwegen und schiebt sich die Hände in die Hosentaschen, während er mir durch den Vorgarten auf die Feldwege folgt und wir neben den Feldern Richtung Straße laufen. Gelangweilt guckt er sich um und schmunzelt, als wir den Spielplatz gegenüber sehen können. „Ja, manchmal. Also im Urlaub mag ich so eine Stimmung. Sie erinnert mich an unsere unbeschwerte Kindheit. Warte, ich habe eine Idee. Komm mit!", ich strahle und schnappe Gabriels Ärmel, um ihn mitzuziehen, er folgt mir. Erst langsam, dann schneller, bis wir lachend losrennen – quer durch das hüfthohe Feld an Weizen und Gräsern, durch das sich damals Gabriel, Pat und Felix angepirscht haben. Auch wenn er schneller ist, rennt er neben mir und bremst gleichzeitig ab, als wir auf das Rondell gelangen. Der Spielplatz liegt unverändert vor uns, mehr noch, das Gerüst von damals schimmert in der Morgensonne und das Gras und der Sand samt dem Kies wirken noch feucht vom Morgentau. Genau die Stimmung, die es damals immer hatte. „Ich sehe schon, was das wird", Gabriel schüttelt den Kopf und rempelt mich an, ich boxe ihn sanft und drehe mich zu ihm. Er lehnt sich an das Klettergerüst und sieht nach oben zu der Stelle, an der ich damals saß und er mich mit der Dose abgeworfen hat. Ich lehne mich an die gegenüberliegende Seite und lehne mich an das vertraute Metall. „Ja und nein. Eine Zeitreise, aber nicht zu uns beiden. Siehst du hinten den Hügel mit dem Zaun?", frage ich ihn und grinse bei der Erinnerung. Er nickt und verschränkt die Arme. „Da sind wir zu fünft immer eingebrochen. Wir wollten damit Ermittler spielen und irgendwelche Spuren suchen. Und manchmal haben wir so getan, als würden wir mit Graffiti auf dem Privatgrund sprühen, um uns böse zu fühlen", lache ich, er stimmt mit ein. „Tja, wir waren einfach so böse und haben gesprüht", schmunzelt er und beobachtet mich mit einer neuen Wärme in den kalten, dunkelblauen Augen. „Ich weiß. Und ihr habt uns angegriffen in unserer sicheren Festung hier. Wenn du näher zu mir kommst, siehst du sogar mein Zimmer", locke ich ihn an, Gabriel lacht erneut und kommt nah an mich heran, aber mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen. „Du versuchst nur, mich zu dir zu bekommen. Glaub mir, ich durchschaue dich, Psychologe Glass", raunt er, ich verdrehe die Augen und ziehe ihn an den Schultern zu mir, damit er wirklich einen Blick auf das Fenster wirft. Dann drehe ich ihn weiter nach rechts zu dem riesigen weißen Haus mit der großen Garage und den Schaukeln in den Bäumen. „Da drüben sind Rot und Hellblau eingezogen. Noch am ersten Abend haben wir uns hier getroffen", schwelge ich in der Erinnerung, dann schiebe ich Gabriels feste Schultern weiter nach rechts, „in der Villa mit den tausend Balkonen hat Grün gewohnt und dort drüben, in dem kleinen Haus mit der kaputten Fassade Orange." „Süß. Und ihr fünf wart immer in Sichtweite eurer Eltern. Und als wir drei kamen ... da habt ihr in eurem kleinen Safespace gespielt und gekichert und wir haben das zerstört. Obwohl ihr so nah an eurem sicheren Zuhause wart und es sehen konntet", fasst Gabriel es leise zusammen und senkt den Kopf. Automatisch hebe ich meinen, sodass unsere Lippen sich fast streifen, wir halten beide die Luft an. „Ja. Wir waren jahrelang sauer und schockiert, aber letztendlich war es irgendwie nötig zu erfahren, dass das Leben ist. Dass auch mal Scheiße passieren kann und wir fünf uns haben", lächele ich schief und suche Gabriels Blick. Er blinzelt und seine Hände wandern in meine hinteren Hosentaschen, was mich schaudern lässt. Noch nie hat ein Typ das bei mir gemacht, jedenfalls nicht am hellen Tag und nüchtern, geschweige denn in der Öffentlichkeit. „Wie praktisch, dass wir drei an dem Abend zum ersten Mal frei von unseren Erzeugern waren. Nur dumm, dass wir gleich Scheiße gebaut haben und das, was sie uns beigebracht haben, euch angetan haben. Das war scheiße. Und dass wir das beim Five Guys nochmal gemacht haben, auch wenn ihr die Schläge verdient habt", murmelt Gabriel und spielt an meinem Hintern durch die Jeans, ich lache und stupse ihn an, während ich meine Hände an seine Hüfte lege und unter sein T-Shirt fahre. „Das ist das, worüber wir reden sollten. Es gibt immer noch ein ihr und ein wir", ringe ich mich zur Realität durch, Gabriel nickt und sieht mich verzweifelt an. „Raphael, ich will es mit dir probieren. Und gestern Nacht wirkte es so, als würdest du das auch wollen", er grinst dreckig, „auch wenn wir noch Themen haben. Ich will mit dir zusammen sein, aber ... ich denke, ich will es erst Dunkelblau und Schwarz sagen, bevor wir so richtig zusammen sind. Verstehst du, was ich meine? Ich will dich daten und ich will, dass wir zwei eine Beziehung haben, zumindest ... fuck. Scheiße, ich will mich vorher bei meinen besten Freunden, meinen Brüdern, outen, bevor wir so offiziell zusammen sind. Aber ich will das und gleichzeitig will ich dich nicht verletzen und wie deine letzten Typen sein, die auch nicht zu dir standen." „Ist okay, ich verstehe das. Du bist nicht wie die anderen Kerle, wirklich nicht", ich lache ebenfalls angespannt und streife Gabriels trockene Lippen, er grinst und fährt nervös durch meine welligen Haare. „Gut", murmelt er und zieht mich mit einem Ruck an sich, ich keuche auf, als wir hart aneinander stehen und ich seinen Herzschlag an meiner Brust spüre. Shit, er ist verdammt gut. Ausgerechnet er, Gab Wagner, steht mit mir auf einem verdammten Spielplatz, trägt meine Jacke und zieht mich eng an sich. „Dann gehen wir es wohl langsam an, bis du dich bereit fühlst. Für einiges. Zum Beispiel, es den anderen zu sagen", grinse ich ihn frech an, er lacht dunkel und nickt. „Lange halte ich das eh nicht mehr aus. Und was unsere Freundeskreise angeht ...", deutet er an, ich nicke. „Klar. Ich will auch nicht, dass wir uns mischen. Es wäre anders schöner gewesen, aber es geht nicht. Ich will meine Freunde beschützen und, dass sie sich wohlfühlen, auch ihre Mädels, und ich will, dass alles so bleibt, wie es ist. So glücklich und harmonisch. Und wenn das heißt, dass du bei deinen Freunden bist und ich bei meinen, dann ist das das Richtige. Wir beide lieben sie alle zu sehr", bestätige ich ihn leise und lege den Kopf in den Nacken. Das hier ist richtig, auch wenn wir selber einstecken müssen. Wenn es anders ist, als ich es mir immer gewünscht habe. Aber eines Tages müssen wir wohl alle aufwachen, wie es scheint, und das tue ich gerne für meine besten Freunde. Wenn einer verzichtet, dann ich. „Richtig", nuschelt Gabriel und streift über mein Punkt-Tattoo an der Hand, ich grinse. „Bleibt nur noch eine Sache", raune ich ihm zu, er zieht die Augenbrauen spielerisch hoch: „Frühstück?" „Das auch", gluckse ich und klopfe auf meine Hose, in der der Schlüssel klimpert. „Wir sind noch immer Mitbewohner daheim. Und es ist keine gute Idee, jetzt sofort als Paar oder was auch immer zusammenzuwohnen", eröffne ich ihm und warte seine Reaktion ab. Er schluckt und in seinen dunklen Augen glänzt etwas Verzweiflung auf. „Logisch. So etwas funktioniert nie, weiß ich. Und es wäre echt mies mit deinem Vermieter, der so scharf auf dich ist. Und wenn er jetzt erfährt, dass ich deinen Schwanz ... okay, fuck, soweit bin ich noch nicht", er lacht unsicher und krallt sich in meiner Jeans fest, während er den Kiefer aufeinander presst. „Fuck, und ich habe auch kein Geld für eine eigene Wohnung, es reicht gerade mal für die halbe Miete bei dir. Und ich will nicht sofort zu Dunkelblau und Grau oder zu Schwarz und Violett, obwohl es da eh zu eng wäre ...", plappert er los, ich halte ihm lachend den Mund zu. Erstaunt sieht er mich an und beißt dann in meine Hand, ich quieke gespielt und lache. „Chill, Gabriel. Alles gut. Damit wollte ich dich nicht rauswerfen! Mein Vorschlag wäre vorübergehend, dass wir im Alltag nur Mitbewohner sind und uns quasi zu Dates verabreden. Verstehst du, was ich meine? Ich denke, das würde es leichter machen, vor allem für dich. Das ist ziemlich viel, dass du jetzt etwas mit einem Typen hast und dann musst du dich noch outen und so weiter. Wir würden nichts überstürzen und das Beste aus der Situation machen", suche ich nach den richtigen Worten und atme erleichtert aus, als Gabriel nickt und nichts missversteht. „Klingt perfekt. Ich habe scheinbar einen echt klugen und wirklich begabten Fast-Freund", frotzelt er und tätschelt mich, ich zeige ihm den Mittelfinger und er lacht ausgelassen. „Da lernst du ja von mir", raunt er mir angesext zu und schaut zweideutig, ich funkele ihn an und befreie mich aus seinem Griff. „Leck mich, Gabriel!", rufe ich ihm über die Schulter zu und lache, als er mich von hinten schubst und wieder auffängt. „Wer weiß, vielleicht bald mal", grinst er und weicht meinem Blick aus. Fassungslos grinse ich nur vor mich hin und führe ihn dann zum Bäcker.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt