Kapitel neunundvierzig

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Raphaels Sicht 

Die Sonne verschwindet bereits hinter den flachen Hügeln des Dorfes, als ich mit Gabriel über die Schnellstraße rase und dann die letzten Kurven auf den Feldwegen zu unserem kleinen Viertel aus der Kindheit nehme. Wieder auf dem Motorrad unterwegs zu sein, fühlt sich noch besser an als mit dem Jeep. Tatsächlich freier und wieder jünger, vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich wieder vor meinem alten Zuhause halte. Grinsend bremse ich vollständig ab und parke direkt vor der Garage meiner Eltern, Gabriel kommt dicht hinter mir zum Stehen und zieht seinen Helm ab. Zum ersten Mal seit heute; denn als wir uns heute Nachmittag an der Wohnung getroffen haben, bin ich nur vom Jeep umgestiegen, er hat die ganze Zeit schweigend und mit dem Helm auf seinem Motorrad gewartet und mich durch das Visier intensiv mit seinen dunklen blauen Augen verfolgt. Ihn jetzt ohne Helm zu sehen, ist gar nicht gut. Sein Anblick lässt mein Herz viel zu schnell schlagen und meine Lippen verziehen sich zu einem glücklich Grinsen, als wir uns anschauen. Die dunkle Sonne scheint in seine wilden Haare, seine Haut glänzt beinahe braun und seine Lippen wirken voller als vor dem Urlaub, nicht mehr so angespannt. Noch viel beunruhigender ist, dass er mich genauso sehr anschaut und lächelt, nicht einmal grinst! Er lächelt, verdammt nochmal! Schluckend verdränge ich die Bilder aus meinem Kopf, als wir vor ein paar Tagen den Videoanruf gemacht haben. Als wir uns einen runtergeholt haben, verbessere ich mich selbst in Gedanken und räuspere mich. „Bereust du es, dass ich hier bin?", ergreift dennoch Gabriel zuerst das Wort, ich schüttele den Kopf. Er grinst. „Nein. Du?", erwidere ich und weiß nicht, ob ich mich nicht doch unwohl fühle. Als wir im Urlaub waren, da war es simpel. Einfach. Wie früher. Wir haben gechattet und wir waren wieder Gelb und Braun, aber jetzt? Jetzt ist da auch Gab, der grinst und der mir vor drei Monaten diese ekelhaften Nachrichten geschickt hat, die sich in meinem verdammten Hirn eingebrannt haben. „Ganz und gar nicht. Ich freue mich, dass ich deine Eltern kennenlerne. Und dass ich jetzt nicht alleine in Vornstadt bin", murmelt er und macht einen Schritt auf mich zu. Ich kann nicht anders, ich komme ihm auch näher und atme seinen warmen Geruch ein, der zwar auch viel Öl und Autobahn beinhaltet, aber genauso sehr nehme ich noch den Geruch nach Sonne, Sand und Wasser wahr, den er aus Italien mitgebracht hat. „Ach, darum geht es also", höre ich mich sagen und sehe ihn an. Sein Blick fängt meinen ebenso ein und ein Funkeln tritt in seine Iris. „Erwischt", scherzt er und beißt sich auf die Lippen. „Raphael, ich ... ich weiß, dass wir reden müssen, aber ...", setzt er an, da höre ich das aufgeregte Schreien meiner Mutter. Sofort fahren wir beide auseinander und drehen uns zur Haustür, in der sie winkt und nach draußen stürmt. Sofort breitet sich diese Wärme in mir aus und ich umarme sie lachend, während sie mädchenhaft kichert und mir durch die Haare fährt. „Raph! Du solltest dich doch melden! Ich mache mir immer solche Sorgen, wenn du so lange unterwegs bist! Dabei weiß ich doch, dass du gut fahren kannst, aber ...", schmunzelt sie und löst sich wieder von mir, um mich von unten stolz anzusehen. Automatisch verdrehe ich die Augen und strahle sie aber an: „Ja, Mama, ich weiß. Aber du hast kein Vertrauen in die anderen Menschen auf der Straße." „Oh ja. Dein Vater hat erst gestern jemanden aus einem Auto schneiden müssen, das war – oh mein Gott", sie blinzelt, als sie über meine Schulter späht und hinter mir Gabriel sieht, der unsicher die Hände in seinen Jackentaschen vergräbt und von einem Fuß auf den anderen tritt. „Hallo, Frau Glass", höre ich ihn heiser und nervös sagen, sie strahlt nur und schiebt mich beiseite, damit sie ihn fest umarmen kann. „Nessi reicht völlig! Willkommen in der Familie! Du bist Gabriel, oder? Oder sollen wir Gab sagen? Raph hat uns so viel erzählt! Ich fasse es nicht, der Kerl vor dem Kino ist der Freund unseres Sohnes!", ruft sie freudig an niemand Bestimmten gerichtet und strahlt Gabriel fast noch mehr als mich an, um dann wieder ins Haus zu stürmen und nach meinem Vater zu rufen. „Hast du ...?", Gabriel beugt sich vorsichtig an mich, ich schüttele den Kopf. „Nein. Ich habe kaum etwas gesagt, aber scheinbar genug. Also, dass du mein Mitbewohner bist, nicht das mit dem Freund", erkläre ich hastig und merke, wie komisch die Stimmung zwischen uns wird. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich will. Ob er mein Freund sein soll oder nicht und genauso wenig entschlossen scheint Gabriel zu sein – jedenfalls wird er nicht aggressiv, sondern nickt und beobachtet mich, was ich als Nächstes tue.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt