Unter Strom

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2:48, Berlin Friedrichshain-Kreuzberg

Das unnachgiebig Schrille Klingeln meines Haustelefons reißt mich keuchend aus der weiß ich nicht wie vielsten Wiederholung. Fuck, ich hatte fast vergessen wie das Teil klingt. Wer ruft heutzutage auch noch per Haustelefon an? Und das um diese unmenschliche Uhrzeit.

Wie spät ist es überhaupt? Vor dem Fenster ist es Stockfinster.

Erschöpft lasse ich die Kurzhanteln los, so dass sie klirrend über den Boden rollen. Meine Handflächen brennen und meine Finger sind taub von der verkrampften, zweifelsohne nicht gesunden Umklammerung.

Der Schweiß läuft mir runter, als ich durch den Flur stolpere und mich fast über meine eigenen Schuhe aufs Maul packe.

„Stein?" Melde ich mich, wahrscheinlich grade noch so rechtzeitig bevor mein Nächtlicher Anrufer wieder auflegt.

„Vincent? Vincent oh mein Gott geht es dir gut?!" Hä?

„Ja...wer ist da?" Warum sollte es mir auch nicht gut gehen? Ich mein ist zwar alles scheiße, mein Leben fühlt sich an wie die größte Lüge und ich weiß nicht mehr, was ich mit mir anfangen soll, aber das weiß ja keiner. Besser ist das...

„Vincent ich bin es, Cornelia. Dags Mama. Vincent ich...du musst bitte sofort herkommen! Dag er...Dag hatte einen Unfall oder so...ich weiß nicht genau, keiner hier will mir was Genaues sagen und sie lassen mich nicht zu ihm! Er-er ist bewusstlos, sagen die Ärzte, er-...!" Was? Was ist mit Dag?!

„Wohin soll ich kommen? WOHIN?!" Adrenalin. Etwas anderes spüre ich nicht mehr. Schuhe, meine Schlüssel, dann laufe ich nur noch.

Irgendwo im Hintergrund meines Verstands, knallt meine Wohnungstür zu.

„Urban-Krankenhaus." Auto? U-Bahn? Was ist schneller?! Zu Fuß, ich Idiot...!

„Bin gleich da." Ohne ein weiteres Wort lege ich auf und renne die Treppen runter und kurz darauf durch die Stadt. Mit meinem Scheiß Haustelefon in der Hand.

In meinem Kopf ist zu viel los, ich kann nicht wirklich begreifen, was eigentlich passiert. Wie soll ich es in Worte fassen? Mein Hirn implodiert, vor Sorge...vor Angst.

Dag. Unfall. Bewusstlos. Alleine. Schlimm. Angst. Verlieren. Koma. Tod.

Mein Kopf spielt Bingo und je mehr Wörter es werden, desto schlimmer wird es. Ich weiß nicht wie viele rote Ampelmännchen ich ignoriere oder wie oft ich unter Hupen fast angefahren werde.

Ich bliebe nicht stehen, nichts und niemand kann mich stoppen. Das weiß ich nicht, ich mach es einfach.

Diffenbergstraße. Der Park ist eine Abkürzung die mir eine, vielleicht zwei Minuten spart. Ich komm mir vor wie ein gejagter, dabei bin ich doch gar nicht auf der Flucht...und wenn doch, dann höchstens vor mir selbst.

Die letzten Meter zum Eingang fühlen sich an wie der längste und zugleich doch viel zu kurze Weg. Was, wenn Dag so schwer verletzt ist, dass ich nicht zu ihm darf? Was wenn er vergessen hat wer ich bin? Was ist überhaupt passiert? Ist es...ist es wegen mir?! Wegen dem was gestern...

Vielleicht ist er ja tot...?

Nein! Ich erlaube mir selbst nicht mal den Gedanken. Dag ist nicht tot. Das wüsste ich...das würde ich doch spüren.

Und seine Mama hat gesagt, dass er Bewusstlos ist. Bewusstlos heißt nicht tot. Oder doch? Ist man, wenn man tot ist nicht ohne Bewusstsein? Aber das hätte sie doch gesagt!

Egal wie aufgelöst und verzweifelt sie ist...richtig?

Der Geruch von Desinfektionsmittel, zu stark geröstetem Kaffee und Einmalhandschuhen, schlägt mir mit der heißen Wartezimmerluft wie eine Wand entgegen. Mein verschwitztes Shirt klebt kalt an mir und ich fühl mich wahrscheinlich nur halb so eklig wie ich wirklich aussehe, das hindert mich jedoch keine Sekunde daran an den Empfangstresen zu treten.

Deine CollegejackeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt