Wenn ich mir die Augen zu halte siehst du mich nicht

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Als würde im Kreis rennen es besser machen

Nach zwei Wochen gleicht mein Zimmer noch immer einer Gefängniszelle. Jeden Morgen schaue ich aus dem vergitterten Fenster raus auf den Hof, runter zum See und frage mich wie lange ich noch durchhalten muss bis es besser wird. Besser. Mir würde es schon reichen, wenn ich mich nicht mehr jede Nacht, sondern nur noch jede zweite oder dritte, in den Schlaf heulen müsste. Eine weitere Routine. Hier drinnen hat alles eine Routine. Aufstehen, hat eine Routine, jeden Morgen um halb acht. Frühstück gibt es nämlich nur bis kurz vor neun. Ich esse meistens Haferflocken mit Kakao oder Toast mit Schokocreme, auch wenn es jedes mal aufs neue weh tut weil es mich an Vincent erinnert, an eine andere so helle und heitere Zeit in meinem Leben, die einfach ins nichts verschwunden ist. Dann habe ich eine Stunde Gruppentherapie, die mir komischerweise irgendwie am meisten hilft. Es tut gut mit anderen Menschen bei denen auch nicht alles so toll gelaufen ist im Leben zu reden. Dann fühl ich mich nicht mehr ganz so wie das Alien das ich in dieser Gesellschaft bin.

Mit ein paar von ihnen esse ich mittlerweile sogar zu Mittag. Eigentlich ist das gar nicht so schlimm. Mittags habe ich immer zwei Stunden Beschäftigungstherapie, der größte Rotz auf Erden. Korbflechten und Töpfern...es gibt nichts Schlimmeres! In Kombination mit der immer gleichbleibenden monotonen Stimme der Therapeutin ist das die perfekte Einschlafhilfe mit erschreckend viel Frustrationspotential. Das ist einfach nichts für mich.

Dann gibt es da noch die individuale Therapie, jeden zweiten Nachmittag mit Dr. Klafe und...

Das Telefon im Büro unterbricht meine Gedanken und die mir mittlerweile mehr als Vertraute Sekretärin, Frau Melling, die den Bums hier verwaltet abhebt und sich professionell wie immer meldet. „Für Sie her Kopplin." Ich steh auf um mir den Hörer zu holen.

Ein weiteres meiner Rituale...ein ganz privates.

„Hallo Mama." Melde ich mich noch während ich mich zurück auf meinen Stuhl setze und Frau Melling mir mit einem weichen Lächeln ihre Schüssel mit den Bonbons hinschiebt. Ich glaube ich bin der einzige, der hier jeden einzelnen Tag auftaucht um zu telefonieren. Ich glaube sie findet das toll, auch das ich mit meiner Mama rede und nicht etwa mit meiner Freundin oder...oder so.

Schwiegemamisliebling, seufz.

„Hallo Dag, na wie geht es dir heute?" Nachdenklich knubbel ich an meiner Hose herum. „Ganz gut glaub ich. Vincent kommt mich heute besuchen." Es auszusprechen macht es nicht realer. Er will mir wirklich sehen nach dem ich...

„Na das wurde aber auch Zeit. Seit Tagen ist das einzige das ich hier zwischen den Zeilen höre: Vincent fehlt mir so. Ohne ihn ist alles doppelt doof. Depression, doppelt doof, Medizin, doppelt doof, Therapie, doppelt doof, stimmen in meinem Kopf, doppelt doof!"

Mutter...!

„Mama! Bitte, das habe ich nie gesagt! Er...er brauchte Zeit...und die bekommt er, so viel und so lange er will...!" ich habe überhaupt kein Recht darauf ihn zu sehen. „Das heißt nicht, dass du es nicht gedacht hast. Ich bin deine Mutter, ich spüre sowas doch." Ja, du weißt aber auch nicht was genau passiert ist...und das ist auch besser so. Sonst hasst du deinen Sohn. Und ich hasse mich selbst schon dafür, dass ich meine eigene Mutter anlüge und das Monster das ich bin verleugne. „Alles ok bei dir? Du bist so ruhig." Was soll ich denn sagen? Mama, sorry aber ich habe Angst davor Vincent wieder zu sehen, weil ich ihn geschlagen habe? Nein...ich kann sie nicht schon wieder enttäuschen. Eine weitere Welle der Schuldgefühle frisst sich durch mich hindurch und meine Finger suchen den kleinen Golden Retriever in der Tasche meiner Jogginghose. „Ich weiß nicht ob er mich sehen will." Wahrheitsgetreu und schmerzhaft, ich kann es nicht schönreden. „Wie bitte? Warum sollte er dich nicht sehen wollen mein Schatz?" Die alarmierende Sorge in ihrer Stimme treibt die Schuldgefühle in mir wieder in die Höhe. „Wir hatten Streit bevor ich raus musste." Raus musste, die Bezeichnung ist nicht für mich, sie ist für meine Mama. Klar könnte ich sagen ‚bevor ich mich eingewiesen haben', immerhin ist es das was passiert ist, ich komm damit klar, bin ja nicht erst seit gestern auf Hilfe angewiesen und auch nicht das erste mal in der Psychiatrie. Meiner Mama will ich den Gedanken von mir hier drinnen ersparen, deswegen soll sie mich auch nicht besuchen. Sie soll mich so im Kopf haben, wie ich draußen bin, nicht wie das Nervenwrack das ich hier drinnen bin, mit den Augenringen wie ein Panda, der viel zu blassen Haut und den anderen körperlichen Auswirkungen meiner neuen Medikamenteneinstellung.

Deine CollegejackeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt