Out Of My System

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"I'm a connoisseur of roads. I've been tasting roads my whole life. This road will never end. It probably goes all around the world."
- My Own Private Idaho

Es war die Nachricht von Kai. Sie zog Julians gesamte Aufmerksamkeit auf sich. All die Konzentration, die er noch in der Lage war aufzubringen. Und sie ließ sein Herz, das in seiner Brust schmerzte, etwas schneller und etwas leichter schlagen.
Gleichzeitig drangen langsam die Informationen der anderen beiden Nachrichten durch den Nebel in Julians Kopf hindurch.
Es war schwierig in seinem Zustand einen klaren Gedanken zu fassen. Jedes Mal wenn er es versuchte, schien er ihm wieder zu entgleiten. Und jedes Mal wenn er versuchte sich aufzusetzen, wurden seine Augen zu schwer und die Dunkelheit um ihn herum zu angenehm.
Wäre die Nachricht von Kai nicht gewesen, dann hätte Julian es nicht geschafft gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Gegen das dumpfe und taube Gefühl, das er mittlerweile besser kannte, als er es je gewollte hätte.
Aber die Nachricht von Kai war da. Er hatte sie gelesen. Jedes einzelne der fünf Wörter und sie hatten sich in sein Gedächtnis eingeprägt. Möglicherweise für immer.
Kai wollte ihn sehen. Er freute sich ihn zu sehen. Und sie würden sich sehen. Noch heute. In der Nationalmannschaft. Und sie würden zusammen spielen. Wie früher. Und Julian würde spielen müssen. Unter erschwerten Bedingungen. Wie immer.

Und da war sie wieder. Die Nervosität. Trotz Tabletten und trotz Kai schaffte sie es, sich in ihm auszubreiten. Denn egal wie sehr Julian sich die Nominierung gestern noch gewünscht und darauf hin gearbeitet hatte, wusste er, dass er nicht gut genug war. Nicht in seinem derzeitigen Zustand. Und das wollte er keinem antun. Vor allem nicht Kai. Kai sollte ihn so nicht sehen. Hätte Julian also die Wahl gehabt, hätte er diese große Chance vermutlich vergeben. Die zweite Chance, auf die er seit Monaten wartete. Fußball in der Elite spielen zu dürfen und sich endlich beweisen zu können. Er hätte von seiner eigenen Angst ausgebremst alles abgelehnt.

Jetzt hatte Julian allerdings keine andere Wahl. Die Möglichkeit abzulehnen blieb ihm verwehrt. Er war gezwungen über seinen Schatten zu springen, gezwungen das Unmögliche möglich zu machen, und noch am heutigen Tag seinen, an das Bett gefesselten Körper, zu der Nationalmannschaft, zu Kai und zu all seinen Ängsten zu tragen. Julian hatte nur diesen einen Weg vor sich.

Im Nachhinein hätte Julian nicht sagen können, wie er es geschafft hatte aufzustehen, obwohl ihm alles daran unmöglich schien. Halbherzig und abwesend hatte er seinen Koffer gepackt. In diesem Moment hatte sein Unterbewusstsein die Kontrolle übernommen, während seine Gedanken weit weg waren.
Auch die anschließende Fahrt war undeutlich, unwirklich, fast als würde er träumen. Wie so häufig in letzter Zeit. Wie jede Nacht. Weil seine Albträume zuletzt das wichtigste an jedem Tag gewesen waren.
Die Fahrt war still. Zu still. Niemand redete mit Julian. Julian redete mit niemandem. Der Fahrer fuhr den großen Wagen mit den verdunkelten Scheiben so geräuschlos über die Straße, dass die Stille noch bedrohlicher wirkte. In diesem Moment war Julian froh darüber, dass die Wirkung der Tabletten noch nicht ganz verklungen war, weil seine Gedanken ihn in dieser Stille sonst verrückt gemacht hätten. So, waren es nur zwei, die sich ununterbrochen in seinem Kopf wiederholten. Kai und die Angst. Sie waren das Pro und das Contra für die kommenden Tage und Julian konnte sich nicht entscheiden, welche Seite gewann.

Irgendwann wurde die Stille unterbrochen. Ein Mitarbeiter des DFB erklärte Julian den Ablauf der nächsten Tage. Julian hörte nur mit halben Ohr zu. Er konnte sich nicht konzentrieren. Als sie da waren, hätte er nicht sagen können, was er in den nächsten Tagen zu tun hatte. Vielleicht war das gut. Wenn er nicht wusste, was auf ihn zukam, konnte er sich auch keine Gedanken darüber machen.
Worüber er sich Gedanken machte, war das Wiedersehen mit Kai. Nervös sah er sich um. Vor dem Hotel, in dem die Mannschaft untergebracht war, standen viele Journalisten und Fans. Seine Nervosität wuchs. "Wo sind die anderen?" Er stellte die Frage so leise, als würde er eigentlich keine Antwort darauf haben wollen. "Auf dem Trainingsplatz" sagte der Mann, der ihm gerade alles haargenau erklärt hatte und wahrscheinlich auch das mehrfach erwähnt hatte. Julian nickte nur. Dann atmete er einmal tief durch und stieg aus.

I just wanna feel again ~ BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt