Everybody has a chapter they don't read out loud...
Kai rannte. Mit jeder Bewegung wurde seine Atmung schneller. Draußen war es so kalt, dass ihm die Luft beim Einatmen in seiner Lunge brannte. Seine Augen tränten von der Kälte und er sah alles verschwommen. Der schnelle Rythmus, der durch seine Kopfhörer in seine Ohren drang, gab ihm das Tempo vor.
Es war noch früh und es war dunkel. Die Sonne ging gerade erst auf. Die Morgendämmerung hatte Kai schon immer gemocht. Sie zeigte ihm jeden Tag aufs Neue, dass, egal wie lang sich die Nacht und die Dunkelheit angefühlt hatten, das Licht doch immer zurückkommen würde.
Deshalb ging Kai morgens joggen. Fast jeden Tag. Rennen war für ihn am Ende immer eine Lösung. Wenn er beim Fußballspielen rannte, dann vergaß er alles andere. Er dachte an nichts. Diesen wunderschönen Zustand versuchte er jeden Morgen mit dem Joggen zu simulieren. Es klappte immer.
Heute nicht.
Zu viele Gedanken waren in Kais Kopf. Zu schnell um sie zu fassen und zu viele um sie zu zählen. Es war, als hätte die vergangene Nacht einen Damm durchbrochen, der zu viele von Kais Gefühlen eine so lange Zeit zurückgehalten hatte.
Und weil diese ganzen Gedanken ihm heute morgen die Luft zum Atmen genommen hatten, lief er jetzt durch die Kälte, in der Hoffnung ihnen zu entkommen. Wie immer.Julian hatte noch geschlafen, als Kai aufgestanden war. Oder zumindest hatte er so getan. Kai wusste, wie schwer Julian das Schlafen fiel. Und er wusste ebenso, dass Julian nicht wollte, dass Kai sich Sorgen machte. Aber Kai machte sich Sorgen. Er hatte Angst um Julian. Und diese Angst brachte ihn fast um.
Er hatte es am vorherigen Abend gesehen. Er hatte gesehen, dass Julian sich hatte überwinden müssen, bevor er sich in das Hotelbett gelegt hatte. Das tat ihm weh. Er konnte sich nicht vorstellen, wie schlimm es für Julian sein musste, ohne die Hilfe der Tabletten zu schlafen. Ohne sie zu leben. Er konnte sich nicht vorstellen, nicht schlafen zu können. Keine Möglichkeit zu haben alle Probleme einmal zu vergessen.
Schlafen war für Kai schon immer ein Ausweg aus der Realität gewesen, aus den erholsamen Nächten, sammelte er die nötige Ruhe um die darauffolgenden Tage zu überstehen.
Diese Gedanken führten ihm einmal mehr vor Augen, wie stark Julian war. Wie unglaublich es war, dass er trotz all seiner Probleme hier war. Bei der Nationalmannschaft. Bei den besten Fußballspielern Deutschlands. Er zählte zu ihnen, trotz all der Steiner, die ihm in den Weg gelegt wurden. Kai wusste nicht, ob er dazu in der Lage wäre.
Wäre er an Julians Stelle, wäre er weggelaufen, schon längst. Wie immer. Aber Julian lief nicht weg. Kai war der, der lief. Der an diesem besonders kalten Morgen durch die Umgebung des Mannschaftshotels rannte. So schnell, dass es wehtat.Nach einiger Zeit verspürte Kai ein so starkes Stechen in seiner Seite, dass er normalerweise stehen geblieben wäre. Um ihn herum war es neblig geworden und er konnte nichts richtig erkennen. Er blieb nicht stehen. Er rannte weiter. Er rannte immer tiefer in den Nebel hinein. Er rannte weil es wehtat. Er wollte, dass es wehtat. Er brauchte den Schmerz jetzt.
Die Musik dröhnte in Kais Ohren und seine Atmung ging immer schneller. Es war, als würde alles immer schneller werden. Auch Kais Gedanken. Sie kamen so schnell auf ihn niedergestürzt, dass er ihnen wehrlos ausgeliefert war. Und sie trieben ihn in eine dunkle Richtung...Vielleicht hatte er die Schmerzen verdient. Weil er ein schlechter Mensch war. Ein schlechter Mensch und ein schlechter Freund. Der schlimmste.
Und obwohl Kai es nicht wollte, und obwohl der Schmerz ihm die nötige Ablenkung bot, dachte er an die vergangene Nacht. Gestern noch hatte er sich geschworen das Ganze zu vergessen. So zu tun, als wäre es nie passiert. Er hatte sich selbst versprochen, alles zu tun, um diese Gedanken nicht zu denken. Jetzt konnte er sie nicht mehr aufhalten. Und er dachte. An den Kuss. Er wollte es nicht fühlen. Er wollte es nie wieder fühlen. Aber das Gefühl, dass Julian in ihm ausgelöst hatte, hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingeprägt. Er konnte es nicht vergessen und er konnte nicht verhindern, dass ihm sein Gehirn diesen einen Moment immer und immer wieder zeigte. Mit jedem Schritt, den er tat wiederholte sich die Erinnerung. Und mit jedem Mal wuchs Kais Schmerz und Hass auf sich selbst. Er fühlte sich, als hätte er etwas Verbotenes getan. Und es tat weh. Es tat weh, weil er mehr wollte. Es tat weh die Erinnerung nach dem Kuss enden zu sehen. Und es tat weh, weil er wusste, dass es nie mehr für ihn geben würde. Nicht mit Julian. Ihre Geschichte würde kein schönes Ende nehmen. Kai wusste das. Er hatte das schon so lange gewusst. Er hatte es am gestrigen Abend gewusst. Er hatte es gewusst und er hatte es trotzdem getan. Er hatte Julian trotzdem geküsst und ihm damit sein schmerzvollstes Geheimnis anvertraut. Das schlimmste von denen, die er mit sich trug.
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I just wanna feel again ~ Bravertz
Fanficfüh·len /fǘhlen/ schwaches Verb mit dem Tastsinn, den Nerven wahrnehmen; körperlich spüren "einen Schmerz, die Wärme der Sonne fühlen" Tastend prüfen, feststellen "[jemandem] den Puls fühlen" seelisch empfinden "etwas instinktiv fühlen" Tastend nac...