Lake Phoenix

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TW: suicidal thoughts

"Jedes Gewässer funktioniert in gewisser Weise wie ein Mensch. Wenn alles ruhig ist, ist das eigene Spiegelbild klar zu erkennen. Ist es nicht ruhig, verliert der Mensch das Bild von sich selbst. Ruhe ist der Schlüssel zum Einklang."

Phönixsee:

Es war früh morgens. Vielleicht war es auch schon Nacht. Julian hatte nie verstanden, wie man zwischen den beiden Zeiten unterschied. Sie schienen ineinander überzugehen, ohne dass es eine klar erkennbare Grenze gab. Es war noch dunkel. Julian hatte diese Zeit absichtlich gewählt. Er wollte nicht gesehen werden. Und um vier Uhr morgens, war niemand hier. Julian saß am Ufer des Phönixsees. Seine Beine hingen in dem eiskalten, schwarzen Wasser, das aussah wie Tinte. Um ihn herum war es, bis auf einige flackernde Straßenlaternen, dunkel. Selbst wenn sich jemand um diese Urzeit hierher verirren sollte, war es unwahrscheinlich, dass er gesehen wurde. Für Julian war es nicht wirklich ungewohnt hier zu sein. Er wohnte hier. Die meisten Spieler bei Dortmund lebten am Phönixsee. Julian mochte das. Er liebte Wasser. Das war eine Vorliebe aus seiner Kindheit. Die Nähe von Bremen zur Nordsee hatte zwangsläufig zu vielen Ausflügen geführt und Julian hatte schon früh für sich erkannt, dass er Wasser toll fand. Es beruhigte ihn. In Wasser hatte er immer eine Möglichkeit gesehen, für immer unterzutauchen, falls einmal alles zu viel werden würde. Vielleicht war es jetzt so weit. Vielleicht war er deshalb hier. Vielleicht.
Hier am Phönixsee hatte er, als er das erste Mal in Dortmund gewesen war sofort nach einem abgelegenen Uferstück gesucht. Julian liebte menschenleere Plätze. Noch eine Vorliebe aus seiner Kindheit. Er hatte eine Stelle gefunden. Etwa zehn Minuten entfernt von seiner Wohnung. Es war ein kleiner Steg eingerahmt von Trauerweiden. Trotz dem malerischen Blick auf den ganzen See, war selten jemand hier. Es war der perfekte Ort.

Julian sah auf das spiegelnde Wasser und dachte nach. Es hatte etwas erstaunlich friedliches hier zu sitzen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Auch wenn diese alles andere als friedlich waren.
Kai war heute gefahren. Er war weg. Für immer. Nicht nur ihre Wohnorte trennten sie jetzt. Es war viel mehr als das. Julian hatte Kai auf allen emotionalen Ebenen verloren, auf denen man einen Menschen verlieren konnte. Julian hatte seinen besten Freund verloren und erst nach diesem Verlust gemerkt, dass er mehr war als das. Es fühlte sich an, als wäre er am Ende angekommen. Er wusste, dass viele Menschen geliebte Personen verloren. So etwas passierte täglich. Aber Julian hatte nichts mehr um diesen Verlust erträglicher zu machen. Er hatte die Pillen weggegeben. In der Naivität Kai würde immer da sein, hatte er sich ihm anvertraut. Er hatte auch das Fußballspielen verloren. Offiziell hieß es, er würde sich nach seinem Zusammenbruch erholen. Julian hätte am liebsten gelacht, als er diesen Satz in einem Artikel gelesen hatte. Er erholte sich nicht. Er starb. Jeden Tag ein bisschen und jeden Tag ein bisschen mehr.

Julian fühlte sich dumm. Er hasste sich für seine eigene Dummheit, die dafür gesorgt hatte, dass er alles erst so spät verstanden hatte. Im Nachhinein machte alles Sinn. Kai hatte sich nicht ohne Grund so viel Sorgen gemacht und darauf gedrängt, dass Julian ihm alles erzählte. Er hatte ihm versprochen immer für ihn da zu sein. Nein, er hatte sogar Julian dieses Versprechen abgenommen. Dabei hatte er nur ohne ein schlechtes Gewissen abhauen wollen. Weit weg von Julian.
Es machte mittlerweile Sinn, warum Marco und Kai so vertraut gewirkt hatten. Marco hatte alles gewusst. Die ganze Zeit. Julian erinnerte sich an das Gespräch zwischen Marco und ihm kurz nachdem er wieder in Dortmund angekommen war.

"Hast du es gewusst?" "Ja...Julian bitte sei nicht sauer auf ihn, er hatte seine Gründe und...er wollte nicht gehen, ich hab ihm gesagt er soll gehen, es ist besser so Jule glaub mir." "Was... was hast du ihm gesagt?" Julians Welt war zusammen gebrochen. "Marco, ich brauche ihn" er hatte begonnen zu weinen und versucht, es zu verstecken "ich brauche ihn..."

I just wanna feel again ~ BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt