Hummingbird

581 35 20
                                    

TW: drug withdrawal, metioning of addiction

Three months later

"Mental pain is less dramatic than physical pain, but it is more common and also more hard to bear. The frequent attempt to conceal mental pain increases the burden: it is easier to say "my tooth is aching" than to say "my heart is broken"
- C.S Lewis

Physical pain:

Der Winter in Dortmund war deprimierend. Es schneite nicht. Es war auch nicht kalt. Es war neblig. Julian mochte den Nebel. Er hatte bei jedem Fußballspiel, das im Nebel stattfand das Gefühl, er könnte sich vor allen Ereignissen außerhalb des Stadions verstecken. Er war allein mit dem Ball und fühlte sich wieder wie in Leverkusen. Er hatte seine Liebe zum Fußball wiedergefunden auch wenn er nie gedacht hätte, dass das möglich wäre und der Nebel verhinderte, dass er seine Umgebung zu genau wahrnehmen konnte. Er ließ ihn vergessen. Tatsächlich war dieser Schritt einer der wichtigsten für ihn gewesen. Er hatte anfangs häufig mit dem Mannschaftsarzt geredet und dieser hatte ihm geraten, einige Schritte zurück zu machen und Fußballspielen wieder als das zu sehen, was es früher für ihn gewesen war. Spaß. Leichtigkeit. Julian sollte wieder so spielen wie das Kind, dass er gewesen war, als er sich in den Sport verliebt hatte, der daraufhin sein Leben wurde.
Julian hatte versucht diesen Rat umzusetzen. Bei nebligen Fußballspielen fiel es ihm leicht, alles andere zu vergessen. Dort schoss Julian wieder Tore. Nicht viele. Aber genug. Er war definitiv nicht wieder bei seiner alten Form angelangt. Er verschenkte Chancen und war langsamer als früher, aber er spielte und das war das wichtigste. Er lief an, wenn er anlaufen musste, er versuchte immer in Bewegung zu bleiben. Bewegung half ihm. Beim Rennen konnte er nicht nachdenken.
Julian ging nicht in Zweikämpfe. Körperliche Berührungen vermied er. Nicht nur im Fußball. Er vermied sie generell. Er wollte nicht berührt werden. Er konnte es sich selbst nicht richtig erklären, aber er wollte seinen eigenen Körper nicht spüren. Er wollte nicht an vergangene Berührungen erinnert werden. Er wollte sie alle vergessen. Wollte jene Hände vergessen, die ihm früher Sicherheit gegeben haben.
Die Medien schrieben noch immer Negativ-Schlagzeilen über ihn und auch die Dortmunder Fans schienen ihn nicht sonderlich zu mögen. Sie sprachen von einem fehlenden Willen. Er versuchte erst gar nicht diese Aussagen zu dementieren. Er konnte sie verstehen. Von außen musste es so wirken. Außerdem konnte Julian mittlerweile damit umgehen. Das hatte er vor allem Sonja zu verdanken.
Sonja war seit drei Monaten seine Therapeutin. Sie war eine alte Studienfreundin des Mannschaftsarztes von Dortmund und hatte sich bereit erklärt, Julian zu behandeln. Heimlich, sodass es niemand mitbekam.
Julian mochte den Namen Sonja. Er klang fröhlich. Optimistisch. Anfangs hätte Julian es niemals für möglich gehalten, sich mit seinen Problemen an eine völlig fremde Person zu wenden. Irgendwann hatte er gemerkt, dass es ihm leichter fiel mit einer Person zu reden, die er nicht kannte. In ihrer ersten Sitzung hatten sie über alles mögliche geredet. Nicht über Fußball und nicht über seine physische Gesundheit. Ganz langsam hatten sie sich an das Thema Fußball herangetastet. Am Anfang hatte Sonja ihm gesagt, er solle eine Liste schreiben. Eine Liste mit Dingen, die er in den nächsten Monaten erreichen wollte. Erreichte Ziele stärken das Selbstvertrauen, hatte sie gesagt. Julian hatte lange vor dem Blatt Papier gesessen und lange nicht gewusst, was er schreiben sollte. Was wollte er überhaupt erreichen? Was wünschte er sich? Am Ende hatte er nur drei Punkte aufgeschrieben:

• ein Tor schießen
• eine Nacht durchschlafen
• mich in Dormtmund zuhause fühlen

Bei dem letzen Punkt war er unsicher gewesen, er wusste, dass er diesen Punkt unmöglich erreichen konnte. Er hatte ihn trotzdem aufgeschrieben.

Bei ihrer heutigen Sitzung hatte Sonja, nachdem sie kurz über die Woche gesprochen hatten, die Liste wieder hervorgeholt. Sie wollte von Julian wissen, ob er irgendeinen Punkt abhaken wollte. Julian hatte nachgedacht. Er hatte Tore geschossen. Drei Tore in den letzten drei Monaten. Bei allen drei Spielen war es neblig gewesen und bei allen drei Spielen hatte er keine Angst gehabt. Genau das erzählte er Sonja. Er erzählte ihr auch von seinen Fortschritten beim Schlafen. Es war mittlerweile eineinhalb Monate her, dass er die letzte Beruhigungstablette vom Arzt bekommen hatte. Ihm war erklärt worden, dass es sich bei dieser Methode um einen "warmen Entzug" handelte. Dabei wurden andere Medikamente genutzt um den Suchtdrang zu unterdrücken. Seitdem hatte er ganz auf sich allein gestellt jede Nacht bestreiten müssen. Anfangs war es schrecklich gewesen. Er war nicht in der Lage gewesen einzuschlafen. Hatte wach gelegen und seine Gedanken waren zu ihm durchgedrungen, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Aber Julian war stark gewesen. Er hatte gekämpft. Für ihn. Er wusste selbst nicht, woher er die Kraft genommen hatte Tag für Tag ohne eine Minute geschlafen zu haben, am Training teilzunehmen und Spiele zu spielen. Marco holte ihn mittlerweile jeden Morgen ab und fuhr ihn zum Training. Es waren stille Autofahrten. Sie redeten nicht mehr viel miteinander. Jeden Morgen hatte er ihn in dieser Zeit mitleidig angesehen und Julian hatte sich jeden Morgen elendig deshalb gefühlt. Natürlich war Julians Unkonzentriertheit, die Folge des Schlafmangels, aufgefallen und natürlich hatte Julian demzufolge häufig nur auf der Bank gesessen. Aber es war besser geworden. Irgendwann war er in der Lage gewesen wieder selber einzuschlafen.
Dann waren die Albträume gekommen. Nacht für Nacht. Es war immer der gleiche. Die Albträume waren schlimmer gewesen als das Wachliegen. An diesem Punkt hatte Julian aufgeben wollen. Er hatte wieder eine Panikattacke gehabt und hatte danach gedacht, alles sei vorbei. Aussichtslos. Es würde sich nie etwas ändern. Aber Julian hatte ein Versprechen gegeben. Er hatte nicht die Wahl aufzugeben. Und er hatte es auch nicht. Er hatte gekämpft. Er hatte mittlerweile einen Grund zum kämpfen.
Julian erzählte Sonja nun von seinen Fortschritten. Er hatte nur noch jeden zweiten oder dritten Tag einen seiner Albträume. Zwischendurch war er in der Lage zu schlafen und sich auszuruhen. Er hatte es geschafft mehrere Nächte eigenständig durchzuschlafen. Sonja freute sich für ihn. Sie sagte er könne stolz auf sich sein. Er war es nicht. Nicht wirklich. Nur erleichtert.
Sonja fragte ihn nach dem letzten Punkt. Julian schüttelte nur traurig den Kopf. Er hatte es vorher gewusst. Er hatte gewusst, dass er in Dortmund nicht glücklich sein würde. Es war keine wirkliche Überraschung. Er war trotzdem traurig darüber. Er hatte Freunde hier. Er wollte sich zuhause fühlen. Es ging nicht. Sein Zuhause war an einem anderen Ort. Weit entfernt von Dortmund. Julian kannte sein Zuhause jetzt. Er wusste wo es war. Er konnte es nur nicht erreichen.

I just wanna feel again ~ BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt