Julian hatte Angst vor Drogen. Vor allen Formen davon. Hatte er schon immer gehabt. Dadurch, dass er Fußballer war, war er mit Alkohol ohnehin immer zurückhaltender und vorsichtiger. Mehr als ein Bier an einem wirklich warmen Tag im Sommer war nie sein Ding gewesen. Das einzige Mal, dass er sich erinnern konnte richtig betrunken gewesen zu sein, war an Halloween letztes Jahr. Er war mit Kai und ihren gemeinsamen Freunden in einen Club in Leverkusen gegangen. Irgendwann muss man ja seine Erfahrungen damit machen, hatte er gedacht, und da Kai anscheinend einen ähnlichen Gedankengang gehabt hatte, hatten sie an diesem Abend beide etwas zu tief in ihre Gläser geschaut. Julian konnte sich an nicht mehr viel aus dieser Nacht erinnern, wusste aber, dass es ihm an nächsten Morgen wirklich beschissen ging. Seitdem hatte er um harten Alkohol einen großen Bogen gemacht und war bei seinen wenigen Flaschen Bier beim Grillen im Sommer geblieben. Damit fühlte er sich sicherer. Eigentlich war er dieser Einstellung auch immer treu geblieben und hatte nie an ihr gezweifelt. Bis jetzt.
Er saß wieder auf dem kalten und harten Fliesenboden seiner Küche, dem Ort, an dem er die letzte Nacht verbracht hatte. Er war müde und fühlte sich noch immer etwas benommen, dieser Tag hatte ihn wirklich fertig gemacht. Hätte er noch Tränen übrig gehabt, hätte er vielleicht vor Verzweiflung angefangen zu weinen. Weil er sich so alleine und hilflos fühlte, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Der Wunsch zu schlafen hatte sich in sein Gehirn eingebrannt und er wollte in diesem Moment nichts mehr, als sich selbst diesen Wunsch zu erfüllen. Die Packung Tabletten stand vor ihm auf dem Boden. Er hatte sie dort plaziert und seitdem nicht mehr angerührt. Hatte sie seit einer halben Stunde nur angestarrt. Er hatte jedes kleine Detail an ihr auswendig gelernt, als hinge sein Leben davon ab, die Packung möglichst genau beschreiben zu können. Sie war leicht eingedellt an der linken Seite und der weiße Deckel hatte einen kleinen Kratzer, der erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem Blitz hatte, wie Julian fand. Die Pillen, die er durch das orange farbene Plastik hindurch sehen konnte, waren klein und weiß. Sie hatten eine runde Form und sahen nicht so aus, als seien sie besonders schwer zu schlucken. Julian hatte eigentlich immer Schwierigkeiten damit gehabt, Tabletten zu schlucken, aber diese hier machten einen fast einladenen Eindruck. Er hatte jetzt lange so dargesessen und überlegt, was er nun tun sollte. Er war sämtliche Möglichkeiten, die ihm eingefallen waren gedanklich durchgegangen. Er könnte die Tabletten einfach wieder zurückbringen in der Hoffnung, dass niemand ihr Verschwinden bemerkt hatte. Er könnte auch ebenfalls zugeben, dass er sie genommen hatte, wobei das eine Möglichkeit war, die Julian ungern in Kauf nehmen würde, da sie vermutlich mit einem Rauswurf sanktioniert werden würde. Er könnte die Tabletten auch einfach nehmen. Über diese Möglichkeit hatte Julian mit Abstand am längsten und am ausführlichsten nachgedacht. Und je länger er darüber nachgedacht hatte, desto besser gefiel ihm die erdachte Version. Trotzdem zögerte er.
Julian war noch nie gut darin gewesen, wichtige Entscheidungen zu treffen. Das war ihm das erste Mal aufgefallen, als er noch für Leverkusen spielte. In seinem ersten Championsleague Spiel. Als es zu einem Elfmeterschießen kam, hatte er gesehen wie alle vor ihm, die Entscheidung, in welche Ecke sie nun den Ball schießen wollten, innerhalb weniger Sekunden treffen konnten. Er selbst hatte das nicht gekonnt. Kai gehörte zu den Spielern, die in solchen Situationen ihre Gedanken und Zweifel abschalten konnten. Eine Fähigkeit, die Julian nicht besaß. Das Nachdenken war immer seine große Schwäche gewesen und hatte ihn so häufig schon blockiert. Aber jetzt nicht, dachte er entschlossen. Er wollte gut sein. Wollte es allen beweisen hier bei Dortmund. Und dafür musste er schlafen. Er musste es schaffen seinen Kopf auszuschalten, wenn nötig auch mit ein bisschen Hilfe. Ermutigt von dieser Einstellung griff er nach der Packung, die vor ihm stand, ging ins Schlafzimmer und schluckte gleich zwei Tabletten, das mulmige Gefühl im Magen ignorierend, herunter.
*
Als er wieder aufwachte, war Julian kurz verwirrt. Es war noch immer hell draußen. Die Tabletten hatten nicht mal bis zur Nacht gereicht, dachte er frustriert. Er wollte gerade aufstehen, als die Uhrzeit auf seinem Wecker in sein Blickfeld geriet. Es war 10 Uhr morgens. Einen Moment starrte Julian die digitale Neonanzeige einfach nur an, warf zusätzlich noch einen prüfenden Blick auf sein Handy, dass ihm bestätigte das der nächste Tag bereits angebrochen war. Julian lachte erleichtert. Er hatte es geschafft. Er hatte eine ganze Nacht durchgeschlafen. Er fühlte sich besser als gestern. Das Herzrasen war weg, jedoch fühlte er sich noch immer etwas benommen. So als wäre er noch nicht richtig wach. Auch das Schwindelgefühl von gestern war noch nicht ganz verklungen. Aber all das wurde von einer unglaublich großen Erleichterung in den Schatten gestellt.
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I just wanna feel again ~ Bravertz
Fanfictionfüh·len /fǘhlen/ schwaches Verb mit dem Tastsinn, den Nerven wahrnehmen; körperlich spüren "einen Schmerz, die Wärme der Sonne fühlen" Tastend prüfen, feststellen "[jemandem] den Puls fühlen" seelisch empfinden "etwas instinktiv fühlen" Tastend nac...