TW: family issues, addiction, drug abuse
One year ealier...
I miss you more than I remember you
-Ocean Vuong (On Earth We're Briefly Gorgeous)Es war ungefähr vor einem Jahr gewesen. Ein Tag wie jeder andere und doch ein Tag, der entscheidender war als jeder andere. Ein Tag, über den Julian nie gesprochen hatte. Mit niemandem. Marco sollte der Erste sein, der davon erfuhr. Der Erste, dem sich Julian öffnen würde.
Vielleicht hatte Julian sich geschämt. Vielleicht hatte er deswegen nie jemandem davon erzählt. Es hatte nicht zu ihm gepasst. Damals, war er noch ein anderer Mensch gewesen. Er war stark gewesen oder hatte zumindestens so getan. Mittlerweile, war dem nicht mehr so. Mittlerweile fehlte ihm sämtliche Kraft, sich zu verstellen. Mittlerweile hatte er nichts mehr zu verlieren.Ein normaler Tag an einem normalen Wochenende. Es war eines der Wochenenden gewesen, die sie zusammen verbracht hatten. Kai und er. Zu einer Zeit, in der Kai ebenfalls noch ein anderer Mensch gewesen war. Unbeschwerter, fröhlicher und ungezeichnet vom Leben. Es war vor dem Bruch mit seinen Eltern gewesen. Oder zumindest hatte Julian das immer gedacht. Rückblickend, war er sich nicht sicher, ob das stimmte. Rückblickend, wirkte das Verhältnis zwischen Kai und seiner Familie bereits an jenem Wochenende angespannt. Vielleicht war dieses Wochenende der Beginn und das Ende von allem gewesen. Oder vielleicht war das zu dramatisch.
Sie waren erst am Samstag zu Kais Familie gefahren. Zuvor hatten sie in einem Hotel übernachtet. Hätte Julian sagen müssen, in welchem Moment in seinem Leben er Kai am glücklichsten gesehen hatte, wäre es an jenem Morgen gewesen. Sie waren nebeneinander aufgewacht. Nebeneinander, in einem normalen Hotel. In einem normalen Bett. Mehr nicht. Trotzdem hatte Julian nie so gut geschlafen und Kai hatte ihn nie wieder so angelächelt, wie in diesem Moment.
Es war ein so normaler Tag gewesen, dass es in Julians verschwommener Erinnerung schwierig war herauszufinden, an welchem Punkt alles für immer aufgehört hatte normal zu sein. Sie waren schwimmen gegangen. Es war früh gewesen. Der Pool leer. Jede Sekunde dieses Tages hatte sich so natürlich angefühlt wie atmen. Bis zu dem Punkt, an dem sie zu Kais Familie gefahren waren.Julian hatte Kais Familie nicht oft gesehen. Sie waren meist bei ihm zuhause. Bei seiner Familie in Bremen. Aachen war einfach zu weit weg.
Kai hatte ständig Heimweh. Julian wusste das. Es war wichtig für ihn an diesem Wochenende nach Hause zu fahren. Nach Hause. Julian konnte nicht umhin diesen Ausdruck äußerst unpassend zu finden. Aachen war in seinen Augen genauso wenig Kais Zuhause, wie Bremen seins war. Sie hatten beide kein Zuhause. In Julians Vorstellung waren sie beide allein.
Julian hatte Kais Eltern nur wenige Male gesehen. Er war nervös. Julian war eine Person, die die meisten Menschen mochten. Die, die ihn nicht mochten akzeptierten ihn meist trotzdem. Julian hatte nie Probleme mit irgendjemandem gehabt. Er mochte die meisten Menschen auch. Die, die er nicht mochte akzeptierte er trotzdem. Kais Eltern waren die ersten Personen, bei denen er das Gefühl hatte sie würden ihn nicht mögen. Ein komisches Gefühl. Er hatte Kai nie von seiner Vermutung erzählt. Kai schien es nie gesehen zu haben. Dieses Wochenende war das erste gewesen, an dem auch Kai etwas skeptisch gewirkt hatte. Julian konnte sich den Umschwung nicht erklären. Er ließ es bleiben. Er wollte nicht darüber nachdenken. Wenn er im Nachhinein überlegte, hatte er vielleicht damals schon ein ungutes Gefühl gehabt. Vielleicht hatte er aus Angst nicht weiter darüber nachdenken wollen. Vielleicht hatte er Angst gehabt, auf etwas zu stoßen, mit dem er nicht umgehen konnte. Vielleicht war Julian schon damals kaputt gewesen. Vielleicht schon davor. Vielleicht schon immer.Er konnte im Nachhinein keinen Punkt ausmachen, an dem es angefangen hatte. Es war einfach passiert. Die Blicke. Er hatte sie gesehen. Kai, der sich immer unwohler zu fühlen schien. Er hatte alles gemerkt.
Irgendwann war Julian angerufen worden. Ein verhängnisvoller Anruf, an einem normalen Tag.
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I just wanna feel again ~ Bravertz
Fanfictionfüh·len /fǘhlen/ schwaches Verb mit dem Tastsinn, den Nerven wahrnehmen; körperlich spüren "einen Schmerz, die Wärme der Sonne fühlen" Tastend prüfen, feststellen "[jemandem] den Puls fühlen" seelisch empfinden "etwas instinktiv fühlen" Tastend nac...