Abschied

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Ich bin wie erstarrt. Unfähig mich zu bewegen oder einen klaren Gedanken zu fassen stehe ich an meinem Platz, starre Fjella an. Das kann nicht sein, dass darf nicht sein. Nicht meine süße Fjella. Drei Lose... von so vielen. Auch Fjellas Schultern sind schützend hochgezogen, sie zittert. Weiß gekleidete Friedenswächter treten auf sie zu, legen ihr die Hände in den Rücken und schieben sie mehr als dass sie sie führen, die Gasse aus betroffenen Gesichtern entlang.

Fjella stolpert die Treppe hinauf und stellt sich bebend vor Angst neben Andrina. Alles ist still. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Umso lauter schallt mein Schrei über den Platz, wird von den Häuserwänden die uns umgeben zurückgeworfen, wie ein hundertfaches, unheimliches Echo. „Nein! Fjella nein!" Ich will noch vorne stürzen, doch Friedenswächter halten mich fest. Ich schreie und wehre mich, doch ich bin machtlos. Tränen laufen mir über die Wangen, ich rufe immer wieder ihren Namen. Nicht sie, nicht sie! Ich brauche sie.

"Gibt es Freiwillige?", versucht Andrina über mein Geschrei anzukämpfen. Da ist sie, die Lösung, die ich gebraucht habe, sie präsentiert sie mir auf dem Silbertablett. Ist es dumm? Mit sicherheit. Ist es naiv. Definitiv. Werde ich es bereuen? Nicht im Geringsten.

Ohne, dass ich wirklich darüber nachdenke oder die Folgen abwäge rufe ich: „Ich! Ich melde mich freiwillig!" Ungläubiges Gemurmel erfüllt die Stille, die nach dem Verstummen meiner Schreie wieder eingesetzt hat. Ungläubige Blicke mustern mich und ich weiß auch weshalb. Nach 65 Jahren Hungerspielen, bin ich die erste Freiwillige von Distrikt 12. Das Gemurmel wird lauter und jetzt ist es meine Familie, die laut schreit. „Nova, nicht, tu das nicht!", schreit Conner verzweifelt. Ich drehe den Kopf und sehe meinen Bruder traurig an. Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen. Er schüttelt den Kopf, ein verzweifelter Versuch.

„Erstaunlich, erstaunlich!", ruft Andrina und winkt mich zu sich hoch. Ich spüre die behandschuhten Hände in meinem Rücken und stolpere hastig vorwärts. Ich wehre mich nicht mehr. Ich betrete das Podium und sehe Fjella in das erschrockene Gesicht. „Nein, Nova, nein...", murmelt sie nur, doch ich lege ihr beruhigend die Hand auf den Arm und lächele tapfer. „Schon okay", sage ich, dann wird Fjella gewaltsam die Bühne hinuntergezogen, sie dreht sich immer wieder zu mir um, versucht mich zu erreichen.

Wie gerne würde ich zu ihr laufen, sie in den Arm nehmen, ihr sagen, dass alles gut wird. Doch ich kann es nicht, ich muss jetzt stark sein. „Komm, du mutige junge Dame, komm her", fordert Andrina mich erregt auf. Endlich ist was los in Distrikt 12, denkt sie bestimmt. Ich trete neben sie und blicke starr in die Menge, versuche, niemanden länger als eine Sekunde anzusehen, damit mir nicht erneut die Tränen kommen, weil ich diesen Menschen vermutlich nie wiedersehen werde.

„Wie heißt du, Mädchen?", fragt unsere Distriktbeauftrage. „Novalee Fox", sage ich, so emotionslos wie möglich. „Sehr schön, sehr schön", murmelt sie. „Nun denn, wir wollen nicht länger Zeit verlieren", sagt sie und zieht einen Zettel aus der Schüssel für die Jungs.

„Kaidan Adevane!" Ich suche die Menge nach einem bestürzten Gesicht ab, doch ich finde keins. Im Gegenteil. Der Ausdruck in den Zügen des Jungen, der mit selbstsicheren Schritten nach vorne geht, ist eine eigenartige Kombination aus Selbstsicherheit und Gleichgültigkeit. Es braucht keine Friedenswächter, um ihn auf das Podium zu befördern. Jetzt, wo ich ihn sehe, erkenne ich ihn.

Oh nein, ist mein erster, genervter Gedanke. Kaidan ist ein Frauenheld in Distrikt 12.  Er hat dieses Jahr das Alter von 18 erreicht und wäre nach diesem Jahr sicher gewesen. Aber er zeigt weder Angst, noch Besorgnis oder Bedauern. Aber wirklich wundern, tut es mich nicht. Er ist ziemlich eingebildet. In lässiger Haltung steht er neben mir und guckt irgendwo hin, vielleicht in die Wolken, als bedeute das alles gar nichts. Für ihn meldet sich niemand freiwillig.

The second mentor- DieTributeVonPanemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt