66
Ich wache auf. Ich spüre meine trockene Kehle. Ich will wieder einschlafen. Wenn ich schon sterben muss, dann doch bitte wenigstens im Schlaf. Ich will sterben. Warum bin ich aufgewacht? Meine Augenlieder flattern, meine Lippen sind aufgesprungen, ich bin zu schwach um mich zu bewegen. Wie lange war ich ohnmächtig? Ich richte den Blick auf die Sonne und schätze, dass es mindestens eine Dreiviertelstunde war.
Ich vermisse Uhren. Es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen wieviel Uhr es ist. Schon seltsam, dass mich gerade das jetzt nervt, wo mir doch nur noch höchstens ein, zwei Stunden zu leben bleiben.
Und während ich das denke, entdecke ich ihn. Den silbrigen Fallschirm mit der metallenen Kapsel am Ende. Meine Augen werden groß, groß wie Tennisbälle, groß wie Untertassen. Haymitch, denke ich. Er hat mich gehört.
Mit letzter Kraft ziehe ich meinen ausgetrockneten Körper über dem rauen Felsen, ignoriere die scharfen Kanten, die mir in die Haut schneiden. Hechelnd erreiche ich das Sponsorengeschenk und öffne es mit einem klickenden Geräusch. Eine 0,5 Liter Flasche Wasser fällt mir in die Hände, bis zum Rand gefüllt, herrlich klar und kühl, Tropfen zeichnen sich auf dem Glas ab.
Ich kann mein Glück noch gar nicht fassen. Ehrfürchtig und zitternd richte ich mich auf, lehne mich an einen Felsen und öffne die Flasche. Ohne zu zögern setze ich sie an meinen spröden Lippen an und trinke gierig, einen Schluck, zwei Schlucke, drei Schlucke. Dann zwinge ich mich abzusetzen und erstmal Luft zu holen. Ich weiß nicht, wie lange ich damit werde auskommen müssen.
Um mich abzulenken, bis ich mir wieder erlaube zu trinken, inspiziere ich die Kapsel. Ein Zettel liegt darin, eine Nachricht von Haymitch. Aufgeregt entfalte ich sie und lese die wenigen Worte, die mir in diesem Augenblick so unglaublich viel Hoffnung schenken.
Du bist bald über den Berg, Kleine. Gib nicht auf, oder bist du doch schwach? Haymitch.
Ich verstehe sofort, was er mir sagen will. Seine kryptischen Aussagen zu entschlüsseln habe ich in den letzten zwei Wochen gelernt. Würde man darüber Spiele veranstalten, ich wäre mit Sicherheit der Sieger.
Ich genehmige mir noch zwei große Portionen des Wassers, dann nehme ich mein Messer und die Flasche, lege sie in den Fallschirm und schnüre es so, dass ich es wie einen Beutel tragen kann. Meines Wissens nach, ist es nicht verboten, die Geschenke zu behalten oder umzufunktionieren.
Meine Kehle brennt zwar weiterhin und ich verspüre noch immer Durst, doch ich kann wieder weiterlaufen und genau das tue ich jetzt. Haymitch hat mir nicht nur Wasser geschickt, nein, die Kapsel war zugleich ein Hoffnungsschimmer. Nur durch ihn schaffe ich es, mich weiter dazu zu zwingen, diesen Kamm zu erklimmen, immer weiter hinauf.
Er scheint unendlich in die Höhe zu wachsen, doch ich klettere immer weiter, schleppe mich über steinige, verwinkelte Pfade und trotze der Angst, wenn ich schmale Klippenwege überwinden muss, trinke hin und wieder Etwas. Und dann habe ich es geschafft. Und der Anblick der sich mir bietet, lässt mich vor Erleichterung zusammensacken.
Ein kleiner Gletschersee erstreckt sich nur wenige Meter unter mir, funkelt in der Sonne, eingeschlossen in den Felsen, lädt mich ein, von sich zu trinken. Mein Mund wird trocken. Er ist nicht annähernd so groß wie der See, den ich heute Morgen gesehen habe, und doch könnte man mich gerade mit nichts Anderem locken.
So schnell wie es mir möglich ist schliddere, springe und rutsche ich die Felsen hinunter, lasse mein improvisiertes Bündel und die Jacke auf den Boden fallen, schäle mich aus Pulli und Hose und streife die Schuhe und Socken ab. Jetzt stehe ich nur noch in der einfarbigen Unterwäsche die ich darunter trage da, doch es stört mich in keiner Weise, dass mich gerade hunderte Kameras beobachten und definitiv nicht zensieren.
Ich sprinte auf das Wasser zu und lande mit einem ehrleichterten Seufzer in dem kühlen Nass. Mit den Händen schöpfe immer mehr der essentiellen Flüssigkeit in meinen Mund, lasse es über mein Gesicht und meinen staubigen Körper laufen. Ich tauche unter, schwimme ein paar Züge, genieße das reinigende Gefühl, öffne den Mund und spüle das raue Gefühl hinaus. Keine Dusche im Kapitol kann diesen Moment in den Schatten stellen.
Das Wasser schmeckt klar und herrlich, beinahe gänzlich sauber. Und das bisschen Natur das ich mittrinke ist mir egal. Dafür tut das hier gerade viel zu gut.
Schließlich lässt meine Ausgelassenheit nach und ich entspanne mich. Mit dem Gesicht zum Himmel lasse ich mich treiben, genieße zum ersten Mal die warme Sonne und beobachte Wolkengebilde. Für eine kurze Zeit kann ich vergessen, dass ich mich in den Hungerspielen befinde und einfach nur genießen, jede Sekunde des Lebens auskosten.
Als mir kalt wird, schwimme ich ans Ufer und verlasse das Becken. Ich wringe meine zerzausten triefenden Haare aus und lege mich zum Trocknen auf die Rückseite meiner Jacke. Ich schließe die Augen und denke an Zuhause. Dabei döse ich ein, so gelöst und ruhig wie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr.
Als ich aufwache, steht die Sonne blutrot am Himmel, die letzten Strahlen wandern über meinen inzwischen trockenen Körper. Schnell ziehe ich mich wieder an, bevor es kalt wird. Meine Haare sind strähnig und ich kämme sie mit den Fingern so gut es geht durch, bevor ich sie wieder nach hinten binde.
Ich trinke noch den Rest Wasser und fülle die Flasche am kleinen See auf. Erst, als kein einziger Tropfen mehr hineinpassen würde, drehe ich den Deckel zu und verstaue sie wieder. Gelöst lehne ich mich an die steinige Wand hinter mir und betrachte den Sonnenuntergang. Und dann beginnt die Erde zu beben.
DU LIEST GERADE
The second mentor- DieTributeVonPanem
FanfictionNiemand hätte gedacht, dass ausgerechnet die unscheinbare Novalee aus Distrikt 12 den Mut aufbringen würde, sich für die 66. Hungerspiele freiwillig zu melden. Sie selbst auch nicht. Aber als ihre beste Freundin in den Tod geschickt werden soll, gib...