Ein Teil fehlt

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Ele formte mit ihrem Mund ein aufgeregtes „Oh". Sie ließ das Buch auf den Tisch fallen und rannte, ihre beiden Freundinnen an den Händen packend davon. Kilian war fassungslos. Ein lautes animalisches Brüllen erklang und er wusste, dass es vorbei war.
Einen Moment später kam der Greif um die Ecke geprescht. Kilian versuchte eine Entschuldigung zu stammeln, er versuchte zu erklären, dass er nicht schuld war, doch der wutentbrannte Greif ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Kilian konnte gerade noch so seine Tasche schnappen, bevor er mit Adlerklauen, die sich durch seine Kleidung tief und schmerzhaft in seine Schulter gruben zur Tür getragen wurde. Die Tür schwang auf und Kilian wurde hinausgestoßen. Verbannt. Für immer verbannt.

Gerade hatte er eine Spur gefunden, die ihn weiterführen konnte und zwei der Bücher hatte er nicht einmal angesehen und nun war ihm der Zugriff auf dieses Wissen verwehrt. Das Tagebuch war das Originaltagebuch von Hagen von Tronje, da war Kilian sich sicher. Davon würde er nirgends eine Kopie bekommen. Verzweiflung machte sich in ihm breit und er konnte die Tränen gerade so wegblinzeln, bevor er sich auf den Heimweg machte. Immerhin wurde er nicht noch wegen des Pfands belangt. Ein schwacher Trost. Etwas an dieser Pfandsache war ihm auch immer noch nicht ganz geheuer, doch er war zu aufgewühlt, um darüber nachzudenken.

*

Im Bus beschrieb er Lu, was passiert war. Sie war völlig aufgebracht.
„Aber da muss man doch was tun können!"
„Und was stellst du dir vor?"
„Einen Widerspruch schreiben oder so"
„An wen soll ich diesen Widerspruch adressieren? Herr Greif, Mondbibliotheksinformation 1?"
„Oder deine Mutter bitten, ein Wort für dich einzulegen."
„Wenn meine Mutter rausfindet, dass ich entgegen dem ausdrücklichen Verbot meiner Oma in dieser Bibliothek war, wird sie ausflippen. Meine Mutter und Oma dürfen das niemals erfahren."
So diskutierten sie noch lange verschiedene Optionen, was jedoch immer nur noch klarer die Ausweglosigkeit seiner Situation verdeutlichte.
„Und was ist mit dem Foto?"
„Was für ein Foto?"
„Das von deinem Vater, was du abgegeben hast"
„Ich hab kein Foto von meinem Vater"
„Was hast du denn sonst als Pfand abgegeben?"
„Nichts. Der Greif hat es irgendwie vergessen", schrieb er, doch während er es tippte, fühlte es sich Wie eine Lüge an. Was war mit ihm los? Und wieso glaubte Lu, er hätte ein Foto seines Vaters abgegeben? Er wusste doch gar nicht, wer sein Vater war.

*

Es war schon Ende November, als sie in der Esoterik-Abteilung einer antiquarischen Buchhandlung auf ein Buch stießen, in dem „Verschollene Sagen Siegfrieds" gesammelt waren. Seit gefühlten Ewigkeiten die erste Spur, die scheinbar in irgendeine Richtung ging. Siegfrieds Heldentaten wurden ausgeschmückt beschrieben. Wie er mit Gram Drachen tötete und Unken erpresste. Kilian las ein wenig darin, doch ihm wurde schnell klar, dass es sich um eine Art Fanfiction handelte. Ansonsten führten alle Spuren ins Leere oder endeten entweder bei Siegfrieds Ermordung oder irgendwo am Hofe Attilas des Hunnenkönigs.

Kilians Handy vibrierte und zeigte ihm eine Nachricht von Faina. Er hatte ihr bereits geschildert, wie er aus der Bibliothek verbannt worden war und sie hatte versprochen, einen Weg zu finden, um ihm zu helfen. Der Greif wollte das Tagebuch nicht mehr freigeben, weshalb sie es nicht für Ihn ausleihen oder zu Ende lesen konnte, doch sie war sich sicher, dass es geheime Wege und Möglichkeiten gab, um in die Bibliothek zu kommen, damit sie außerhalb der Öffnungszeiten das Buch suchen konnten.
Offenbar hatte sie nun ein Ritual zur Astralprojektion gefunden, mit dem sie sich nachts in die Bibliothek stehlen konnten.

„Astral- was?", fragte Lu mit gerunzelter Stirn.
„Astralprojektion. Man transportiert damit seinen Geist an einen anderen Ort." Zumindest war das die Kurzbeschreibung des Rituals.
„Und hat sie das schon einmal gemacht?" Lus Stimme wirkte nun besorgt. Kilian zuckte mit den Schultern.
„Vermutlich nicht. Sie hat gerade erst die Beschreibung gefunden." Es klang einfach. Meditieren und sich vorstellen, in der Bibliothek zu sein. Das sollte er doch schaffen können. Natürlich war er aufgeregt.
Er hatte im Internet recherchiert, um etwas darüber herauszufinden und überall hieß es, dass man sehr viel Übung dafür brauchte. Kilian hatte aber keine Zeit, um sehr viel zu üben. Doch deshalb hatte Faina ja das Ritual gesucht, mit dem man durch Magie den nötigen Trancezustand erreichen konnte, für den Andere jahrelange Übung im Meditieren brauchten.
„Aber sie kommt mit und hilft mir", versicherte er Lu, die auf ihrer Unterlippe herumkaute.

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