Rosa

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Kilian verspürte den unerklärlichen Drang aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Als er sich erhob, bemerkte er erstens, dass ihm alle Augen folgten, jemand lachte. Zweitens war er sehr groß. Der Weg von seinem Kopf bis zu seinen Füßen war wesentlich weiter als normalerweise. Er beobachtete, wie er ein Bein hob und als er es nach vorn bewegte und absetzte, schlug der Boden unter seinen Füßen Wellen wie ein See. Fasziniert sah er den konzentrischen Kreisen nach, die sich ausbreiteten. Dann tat er es noch einmal, mit dem anderen Fuß. Wieder Wellen, dieses Mal auch ein Klingeln. Wie kleine Glöckchen. So starrte er seine Füße an, während er sich Schritt für Schritt auf das Dachfenster zubewegte und es aufstieß. Seine Schwester stellte sich neben ihn und nahm seine Hand. Eine Wärme, die nicht nur mit ihrer Körpertemperatur zu tun hatte, durchflutete ihn. Geborgenheit. Liebe. Doch was er fühlen wollte, war die eisige Februarkälte, die von draußen hereinströmte und so wandte er sein Gesicht der Dunkelheit zu. Der Mond stand hoch am Himmel und Kilian wunderte sich darüber, wie viel Zeit vergangen sein mochte. „Wie spät ist es?", dachte er doch die entfesselte, ungefilterte Magie in seinem Inneren übertrug die Worte auch so an seine Schwester. Sie dachte zurück: „Es ist kurz vor drei Uhr nachts."

„Dann haben wir nicht mehr viel Zeit." Es war keine Angst, die er spürte, sondern nur eine Gewissheit, dass es bald zu Ende sein würde. So oder so.

„Brauchen wir auch nicht." Sally streichelte ihm mit dem Daumen über die Hand und zog ihn sanft vom Fenster weg. Wieder hatte er das Gefühl, über Wasser zu laufen. Wasser. Immer hing alles mit Wasser zusammen. Nach Woda war er durch Wasser gelangt, die Traumreise gerade eben hatte ins Wasser geführt.  Auch der Nibelungenschatz war im Wasser versenkt worden. Doch Hagen hatte Gram an sich genommen, nachdem er Siegfried - am Wasser - ermordet hatte. Siegfrieds Witwe Kriemhild hatte später Attila den Hunnenkönig geheiratet - Kilian spürte, dass diese Gedanken nicht seine eigenen waren, doch sie fühlten sich vertraut an. Er hörte Lu denken, die ebenfalls gerade aufgestanden war und fasziniert ihre Füße betrachtete. Kilian sah, wie der Boden auch unter ihren Füßen Wellen schlug. Er konzentrierte sich wieder auf ihre Gedanken. Kriemhild hat Hagen mit Siegfrieds Schwert Gram getötet. Aber Wasser?

Ihre Blicke trafen sich und es durchfuhr Kilian wie ein Blitz. Er sah nicht mehr den Dachboden, nicht Lu. Vor ihm lag ein Körper gehüllt in einen prunkvollen Mantel, dessen ursprüngliche Farbe unter der enormen Menge Blut, die er aufgesogen hatte, nicht erkennbar war. Kilian keuchte entsetzt auf, als er feststellte, dass der Körper keinen Kopf hatte. Dieser lag ein Stück weit entfernt, das Visier des Helms war heruntergeklappt, sodass ihm wenigstens der Anblick des schockverzerrten Gesichts erspart blieb. Kilian spürte, dass seine Hand zitterte und als er sie ansah, stellte er fest, dass er ein Schwert in der Hand hatte. Es war nicht so eindrucksvoll, wie er es sich vorgestellt hatte, das Heft war schlicht gearbeitet, ohne Ornamente, er war fast ein wenig enttäuscht. Aber er war sicher, dass die Waffe, von deren Blutrinne es rot herabtropfte, die war, die er seit Monaten suchte. Sein zitternder Arm war jedoch nicht sein eigener. Blass, schlank und feminin. Bevor er weiter über diese Erkenntnis nachdenken konnte, wurde sein Körper von einem heftigen Schluchzen ergriffen. Die hohe Stimme, die aus seiner Kehle herausdrängte, stammelte etwas Unverständliches und seine Beine trugen ihn zu einem wenige Meter entfernt vorbeirauschenden Fluss. Er holte aus und schleuderte das Schwert in den tosenden Strom, bevor seine Knie auf dem Boden aufschlugen und er weinend die Augen schloss. Eine dunkle Stimme näherte sich ihm und sprach beruhigend auf ihn ein, eine warme, starke Hand legte sich auf seine Schulter und als er die Augen wieder öffnete, war er wieder auf dem Dachboden seines Hauses. Er sah sich um und die aufgerissenen Augen der anderen blickten zurück. Sie hatten alle dasselbe gesehen. Kriemhild, die Hagen aus Rache geköpft und dann Gram in einen Fluss geworfen hatte.

Hieß das, dass das Schwert verloren war? Es müsste verrostet sein. Oder?

„Wasser", hauchte Faina unvermittelt.

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