Nur ein Traum

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Kilian öffnete träge die Augen und sah sich in seinem Zimmer um. Grün gestrichene Wände, hölzerner Kleiderschrank aus dem Antiquitätenladen seiner Mutter, chaotischer Schreibtisch voller Schulsachen, Bücher und Zeichnungen, darüber Poster seiner Lieblings-Indiebands ordentlich eingerahmt, eine flaschengrüne ausziehbare Retrocouch, ebenfalls aus dem Antiquitätenladen, ein alter Holzstuhl als Nachttisch neben seinem Bett, darauf der Roman, den er gerade zum dritten Mal las, sein Handy, aus dem das Ladekabel ragte. Alles an seinem Platz.

Er seufzte erleichtert.

Er war sich nicht sicher, warum er etwas Anderes erwartet hatte. Oder befürchtet? Er blickte, immer noch im Bett liegend, aus dem Fenster hinab auf die Straße. Das Goldgelb der Bäume blendete ihn fast im Sonnenschein des gar nicht herbstlich wirkenden Oktobertags. Lediglich die warmen Jacken und Schals der Passanten verrieten, dass es draußen schon angemessen kühl war. Er richtete sich im Bett auf und erschrak.

Eine Krähe saß auf einem Ast des Baumes vor dem Haus. Sie erinnerte ihn an das unbehagliche Gefühl, das er vor wenigen Augenblicken noch gehabt hatte. Vage rührte sich in seinem Gedächtnis etwas, was er geträumt hatte, eine Krähe war darin vorgekommen. Oder drei? Es wollte ihm nicht einfallen. Er hörte auf, den Vogel anzustarren und damit dies auf Gegenseitigkeit beruhte, zog er den Vorhang zu. Die Krähe krächzte draußen.
"Du kannst an einem anderen Fenster spannen", murmelte er und ging über die quietschenden Dielen zu seinem Kleiderschrank, um sich anzuziehen.

Mit einem grauen Hoody und einer schwarzen Jeans gerüstet, begab er sich die Treppe hinunter, vorbei an der Galerie von Kinder- und Familienfotos, die seine Mutter im Laufe der Jahre über den Stufen aufgehängt hatte, immer seiner Nase folgend in Richtung Gebäckduft. Sein Geruchssinn hatte sich nicht getäuscht. An der Kochinsel in der Mitte des Raumes stand seine Großmutter mit ihrer gepunkteten Rüschenschürze und stapelte Pfannkuchen aufeinander. Das Klappern in der Ecke lenkte seinen Blick zu seiner Mutter, die den Tisch deckte. Seine Freude über die Pfannkuchen erfuhr einen Dämpfer. Drei Teller.

"Also ist Sally noch nicht da?", schmollte er und schlurfte zum Kühlschrank, um seiner Mutter beim Tischdecken zu helfen.
"Dir auch einen guten Morgen, mein Sohn", entgegnete seine Mutter ihm schnippisch. Er zog kurz das Gesicht aus dem Kühlschrank, um ihr Gesicht zu überprüfen. Sie lächelte spöttisch. Gut. Streiten wollte er jetzt nicht. Er holte Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank und stellte enttäuscht fest, dass keine Karamellsauce mehr da war. Mit dem Ellenbogen schob er die Kühlschranktür zu und trug seine magere Ausbeute zum Esstisch.

"Deine Schwester hatte noch zu tun und wird erst morgen eintreffen." Der missbilligende Tonfall, in dem seine Großmutter das sagte, verriet ihm, dass seine Schwester Selena gestern vermutlich zu lange auf einer Party gewesen war, um heute früh hier zu sein, da sie sich noch ausschlafen musste. Wie so häufig.
"Studenten", seufzte seine Mutter theatralisch und lächelte, die Augen verdrehend. Sie setzten sich an den Tisch, als seine Großmutter mit den Pfannkuchen herüberkam.

"Hoffentlich ist sie morgen nicht verkatert", murrte Kilian und erntete einen missbilligenden Blick aus den blauen Augen seiner weiblichen Vorfahren.
"Erstens weißt du genau, dass deine Schwester ihr Wort hält-" er sah seine Mutter skeptisch an und sie schürzte die Lippen, bevor sie fortfuhr - "prinzipiell zumindest. Und zweitens ist es auch nicht so, als wäre dein sechzehnter Geburtstag etwas Besonderes."

"Danke, Mutter. Du weißt wirklich, wie man junge Menschen aufbaut und ihnen Selbstvertrauen vermittelt. Wirklich einfühlsam von dir", sagte er ausdruckslos und bestrich seinen Pfannkuchen mit Marmelade. Obwohl er viel lieber Karamellsauce gehabt hätte.

"Kinder, seid lieb zueinander", mahnte seine Großmutter in spöttischem Tonfall und Kilian lächelte widerwillig.
"Du weißt genau, dass deine Mutter es nicht so gemeint hat. Oder Sara?" Sie sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
"Es wird alles gut gehen. Du wirst schon sehen. Sally wird hier sein und alles wird, wie du es dir gewünscht hast." Seine Mutter zwinkerte ihm zu und er nickte kauend.
"Wir müssen gleich noch etwas vorbereiten, deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du schonmal den Laden aufschließen könntest."

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