Die Nacht hatte ihren Schleier über die Welt gelegt, als Kilian das vertraute Badezimmer betrat, das nun in flackerndes Kerzenlicht Licht getaucht war. Die Badewanne, gefüllt mit lauwarmem Salzwasser, wartete dampfend auf ihn. Der Raum pulsierte mit einer geheimnisvollen Energie, als Kilian sich samt Kleidung - er wollte schließlich nicht nackt durch den Traumwald laufen - in das lauwarme Wasser der Badewanne sinken ließ. Seine Großmutter, seine Mutter und seine Schwester, standen in einem Halbkreis um ihn herum, ihre Anwesenheit verstärkte die Atmosphäre der Magie. Kilian konnte es spüren. Es war wie die Luft vor einem Gewitter. Geladen mit einer Spannung, die sich bald entladen würde.
Das lauwarme Salzwasser sollte ihm zum Einen dabei helfen, seine Gedanken zu fokussieren, indem es äußere Reize minimierte: Bei körperwarmer Umgebungstemperatur schwebend sind viele ablenkende Empfindungen nicht vorhanden. Zum Anderen würden das spirituell gereinigte Wasser und das Salz seinen Geist bei seiner mentalen Reise vor böswilligen Einwirkungen bewahren.
Die Gesichter der Frauen waren von Kerzenlicht erhellt. Ihre Augen strahlten mit einer unverkennbaren Mischung aus Hoffnung und Entschlossenheit.
Klara, mit ihren weißen Haaren und den tiefen Falten auf ihrer Stirn, begann mit einer ruhigen, melodischen Stimme zu sprechen. „Kilian, mein Enkel, du stehst an der Schwelle zu einem außergewöhnlichen Pfad. Du musst dich von den Zweifeln und Ablenkungen befreien, die deine Seele belasten. Konzentriere dich auf deine innerste Kraft und öffne die Pforten zu deinen Träumen." Sie reichte ihm eine Tasse mit einem Kräutertee. Kilian trank sie aus. Etwas Süßliches, das ein pelziges Gefühl auf seiner Zunge hinterließ, war darin enthalten.
Sara, trat sanft lächelnd näher an die Badewanne heran und legte ihre Hand behutsam auf Kilians Stirn. Sie schloss sich dem Singsang ihrer Mutter an: „Schließe deine Augen, mein Sohn, und lasse alle Ängste und Sorgen los. Visualisiere den Wald, der in deinen Träumen wartet. Spüre die Kühle des Grases, das Rascheln der Blätter, und lass deine Sinne eins werden mit der Natur." Sie führte in der Luft über ihm ein Räucherbündel aus Kräutern von seinem Scheitel oben nach unten bis zu seinen Füßen. Der Duft füllte seine Nase und seinen Geist.
Selena, mit einem Hauch von Abenteuerlust in ihren Augen, reichte ihm den Talisman, den er ausgesucht hatte, um ihn auf dem Weg zu begleiten und an seine Mission zu erinnern: "Dies ist der Schlüssel zu den verborgenen Toren. Konzentriere dich auf das, was du finden möchtest, Kilian. Spüre den Griff des Schwertes in deiner Hand, die Kraft und Weisheit, die es dir verleihen wird." Kilian steckte den Playmobil-Siegfried tief in seine Hosentasche.Dann nahm er einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Sein Körper entspannte sich langsam, und er ließ sich von den Worten und Berührungen seiner liebenden Familie leiten. Er fühlte, wie sich der Raum um ihn herum veränderte, während die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum verwischten.
Die Stimmen der Frauen wurden zu einem sanften Summen, das durch die Luft schwebte. Klara begann eine uralte Melodie zu singen, die Kilian in eine tranceartige Ruhe versetzte. Die Badewanne wurde zu einem Portal, das ihn mental in eine andere Welt führen sollte.
Während Kilian in dem warmen Wasser lag, breiteten sich vor seinem inneren Auge Bilder aus. Ein dichter Wald tauchte auf, von schimmerndem Nebel umhüllt. Die Bäume waren wie stumme Zeugen vergangener Zeiten, ihre Äste erstreckten sich wie gnadenlose Arme gen Himmel. Der Boden war mit einem Teppich aus moosbedeckten Steinen und geheimnisvollen Pfaden bedeckt.„Besinne dich auf das, was du erreichen willst", sagten die drei Frauen im Chor. Er hörte ihre Stimmen wie aus weiter Ferne.
Doch Kilian konnte die Fesseln seiner eigenen Gedanken nicht vollständig abschütteln. Rote Haare, grüne Augen und eine sommersprossige Stupsnase drängten in sein Bewusstsein, als er versuchte sich darauf zu besinnen, was er erreichen wollte.Die Dunkelheit seiner eigenen Unsicherheit und die Hitze seiner Sehnsucht begannen, das Ritual zu beeinflussen. Kilian versuchte an das Schwert zu denken. Gram. Er musste Gram finden. Er wollte leben!
Doch plötzlich spürte Kilian, wie sich seine Umgebung veränderte. Schlagartig war das Wasser um ihn herum eiskalt. Statt im Salzwasser zu treiben, begann er zu sinken. Er riss die Augen auf. Das war eindeutig nicht mehr die heimische Badewanne. Und es fühlte sich auch nicht wie eine rein spirituelle Reise an.
Weit über sich konnte er ein Licht sehen. Die Strahlen brachen sich schimmernd und er spürte, wie seine Lungen von der Kälte erfasst wurden. Die Stille des Wassers drückte auf ihn wie eine schwere Last, und er kämpfte darum, an die Oberfläche zu gelangen.
Doch es schien, als ob das kalte Gewässer ihn nicht freigeben wollte. Kilian kämpfte gegen die eisige Umklammmerung an, aber seine Bewegungen waren schwerfällig und langsam. Panik durchzog seine Adern, und er fühlte sich verloren und isoliert in dieser unwirtlichen Unterwasserwelt.
Er fühlte, wie sein Atem langsam schwächer wurde, als würde sein Leben mit jedem Moment verblassen. Doch schließlich durchbrach er die Oberfläche und sog japsend Luft ein. Wo war er nur gelandet?
Kilian blickte sich um. Er befand sich in einem See, der von einem Wald umgeben war. Zum Glück war er nicht sehr weit vom Ufer entfernt. Mit seiner letzten Kraft schwamm er also in die Richtung der nahegelegenen Sandbank, wo er sich erschöpft hinlegte und hektisch prustend ein- und ausatmete, bis sich sein Puls beruhigt hatte.
Er richtete sich auf und betrachtete den Wald genauer. War es der Wald aus seinen Träumen? Hier am Waldrand konnte er es nicht sicher erkennen, doch es fühlte sich richtig an. Etwas in seinem Inneren zog ihn in das grüne Gewirr hinein. Doch er unterdrückte den Impuls. Zuerst wollte Kilian seine Kleidung trocknen und seine Optionen durchgehen. Also zog er seine Hose und seinen Pullover aus, bevor er versuchte so viel Wasser wie möglich herauszuwringen, tastete er in der Hosentasche nach seinem Talisman.
Doch Plastiksiegfried war weg. Hatte er ihn beim Schwimmen verloren? Er konnte es sich eigentlich nicht vorstellen. Aber eine andere Erklärung gab es nicht. Nun überfiel ihn doch die Angst. Um der Panik nicht zu verfallen, die seine Gedanken und Bewegungen zu lähmen drohte, fokussierte sich Kilian auf die einzelnen Schritte, die er jetzt durchführen konnte. Kleidung trocknen. Wald erkunden. Ruhe bewahren.
Zum Glück waren die Steine am Seeufer warm von der immer wieder durch die Nebeldecke blitzende Sonne - was seltsam war, da es schließlich immer noch der 21. Januar war. Nachts. Aber in seinen Träumen war es immer ein sommerlicher Wald gewesen, weshalb sich Kilian nicht weiter darüber wunderte.
Nach etwa einer Stunde - genau konnte er es nicht sagen ohne sein Exo-Gehirn (auch Handy genannt) - war seine Kleidung bereits wieder trocken genug zum Anziehen, wobei er sich den Pullover lediglich um die Hüfte band. Es war mittlerweile schwül.
Mit einem letzten mutmachenden Atemzug wollte sich Kilian gerade vom Seeufer ab- und zum Wald hinwenden, als ihm etwas Spitzes, Kaltes in den Rücken stach.
„Hände hoch und auf die Knie", schnarrte eine Stimme hinter ihm.
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Witchboy
FantasyIn der Nacht zum sechzehnten Geburtstag zeigt sich, ob ein Mädchen eine Hexe ist oder nicht. Das ist die Nacht, in der sich ihre Kräfte offenbaren. Gut, dass Kilian kein Mädchen ist. Als einziger Junge in einem Hexenhaushalt will er so wenig wie mög...