Die Hand des Ruhms

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Kleine Vorwarnung: Wie das letzte Kapitel schon angedeutet hat, wird es hier sehr unangenehm. Kilian muss wirklich die Hand eines Toten abtrennen. Und die Beschreibungen sind relativ plastisch. Wenn dir so etwas unangenehm ist, überspring das Kapitel vielleicht lieber.

Als Kilian sicher war, dass seine Familie schlief, das war kurz vor Mitternacht, schlich er sich mit dem Rucksack aus dem Haus und stieg auf sein Fahrrad.

Ein Knacken ließ ihn erstarren. Kilian sah sich erschrocken um. Sein Herz pochte. Da die Nacht so neblig war, dass er kaum bis zur Straßenlaterne sehen konnte, lauschte er angestrengt auf weitere Geräusche, doch er hörte nichts weiter. Vermutlich ein Tier oder der Wind. Er holte tief Luft und fuhr los in Richtung Friedhof.

Dort angekommen schloss er sein Fahrrad ein gutes Stück weiter weg ab und wartete am Tor auf Faina. Der dichte Nebel hatte Vor- und Nachteile. Er verbarg ihn zwar vor fremden Blicken, die ihn entdecken könnten, aber er verhinderte eben auch, dass Kilian jemanden bemerken würde, der ihn beobachtete. Fast schon paranoid lauschte er also auf jedes Geräusch. Es dauerte aber zum Glück nicht lang, da kam auch Faina angeradelt und schloss ihr Fahrrad an seinem fest.

Kilian schlenderte auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Faina schmiegte sich an ihn.

"Bereit?", fragte sie.

Als er verneinte, spürte er, wie sie in seiner Umarmung lachte. Wäre ihm nach Lachen zumute, hätte er nun geschmunzelt. Aber Kilian brachte nicht einmal ein müdes Lächeln zustande.

Widerwillig löste er den Moment auf und gemeinsam stiegen sie über den Zaun. Der war zum Glück leicht zu erklimmen, sodass Kilian auch mit dem schweren Rucksack keine Probleme hatte. Auf der anderen Seite des Zauns angekommen, horchte Kilian erneut. Es war still auf dem Friedhof. Ein paar Bäume ächzten, einmal raschelte etwas in einem Busch, sonst gab es jedoch keine Geräusche, die auf die Anwesenheit irgendwelcher Menschen hindeuteten.

Außer denen, die sie nun verursachten, als sie den Kiesweg entlangknirschten. Kilian kam es vor, als würden sie ein ungeheures Getöse veranstalten, obwohl er sich Mühe gab, so sachte wie möglich aufzutreten.

Immerhin hatte Faina nachmittags den Bestatter dabei beobachtet, wie er den Sarg zu seinem Grab transportiert hatte, sodass sie es ohne Umschweife fanden.

Kilians Hoffnung, dass es noch nicht zugeschüttet war, erfüllte sich aber leider nicht, sodass er doch den Klappspaten zückte. Sie hatten leider nur einen auftreiben können, sodass sie sich abwechseln mussten.

Kilian grub solange er konnte selbst, doch irgendwann konnte er nicht mehr und musste an Faina abgeben. Dass dieser Zeitpunkt früher kam, als ihm vor ihren Augen lieb war, kränkte ihn dabei mehr, als er gedacht hätte.

Dass Faina eine ganze Menge mehr Erde wegschaufelte als er, bevor sie pausieren musste, versetzte seinem Ego den Gnadenstoß.

Gut, dass er Lu nicht davon erzählen musste.

Der Gedanke versetzte ihm einen zusätzlichen Stich.

Um nicht weiter an Lu denken zu müssen, nahm er also Faina den Spaten ab und hob den Rest des Grabes aus, bis ein "Klonk" ihm anzeigte, dass er den Sarg erreicht hatte.

Etwas vorsichtiger als zuvor grub Kilian weiter und legte schließlich den Rest des Holzes und etwas Platz zum Stehen frei. Es war ein einfacher Sarg, kaum mehr als eine Kiste.

Faina kletterte zu ihm hinunter. Das kleine Lächeln, das sie ihm zur Aufmunterung schenkte, wurde getrübt durch die Sorgenfalte auf ihrer Stirn.

"Lass es uns schnell erledigen, dann haben wir es hinter uns", murmelte Kilian und gemeinsam stemmten sie den Sargdeckel auf.

Kilian war auf einen furchtbaren Gestank gefasst gewesen, hatte sich die schlimmste Verwesung ausgemalt, doch das war natürlich Quatsch. Die Leiche kam heute frisch aus der Pathologie. Das einzige, was er roch, waren Erde und ein chemischer Krankenhausgeruch. Das war fast noch schlimmer. Es kam ihm falsch vor, ein Grab zu schänden und sich dabei nicht schrecklich ekeln zu müssen. Denn obwohl es das Grab eines Mannes war, der wegen bewaffneten Raubes im Gefängnis gesessen hatte, hatte dieser Mensch es verdient, mit Würde behandelt zu werden. Und das implizierte für Kilian irgendwie auch, dass er den Mann nur mit Abscheu verstümmeln sollte. Er hätte es nicht erklären können, aber er wollte lieber eine widerliche Erfahrung dabei haben, als eine klinische, abstrakte.

Er betrachtete den Mann. In einem ganz einfachen grauen Anzug lag er in seinem Sarg. Dunkelhaarig, glattrasiert, reglos. Wie auch immer sich Kilian einen Räuber vorgestellt hatte, dieser Durchschnittsmann traf es nicht. Er sah ganz normal aus. Wäre er nicht ganz sicher, dass sie das richtige Grab geöffnet hatten, würde er nun zweifeln. Doch es konnte keine Verwechslung sein.

Faina griff nach seiner Hand, bevor er noch weiter in seine abstruse Gedankenspirale geraten konnte. Er blickte zu ihr hinüber. Sie legte fragend den Kopf schief. Kilian holte tief Luft und nickte schließlich.

Faina reichte ihm die Säge. Er umschloss den Griff mit den Fingern seiner rechten Hand und griff mit seiner linken nach der linken Hand des Toten.

Sofort verspürte er den Ekel, den er gerade noch vermisst hatte und ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, die Tabletten gegen Übelkeit zu nehmen. Das kalte, tote Fleisch fühlte sich so seltsam an, leblos, schlaff und doch eigenartig härter als eine lebendige Hand. Er ignorierte den Impuls, sie direkt wieder fallen zu lassen und setzte am Handgelenk an. Faina hielt von der anderen Seite den Unterarm fest und Kilian begann die Säge zu bewegen.

Er hatte eine gewaltige Menge Blut erwartet, sich ausgemalt, wie es förmlich in Fontänen spritzen würde, doch auch hier blieb die Realität in ihrem Spektakel eher antiklimatisch, was es erneut umso grausamer für Kilian machte.

Er fühlte, wie sich die Zähne der Säge in das Fleisch gruben, wie es Stück für Stück nachgab und sah, wie das Blut langsam aus dem Schnitt hervorquoll und zäh herausfloss.

Kilian war von dem Anblick so gebannt, dass er die Welle von Übelkeit, die in ihm hochstieg, erst bemerkte, als es fast zu spät war.

Er ließ die Säge abrupt fallen und kletterte aus dem Loch heraus, so schnell es ging. Er schaffte es noch, sich ins Gebüsch zu retten, bevor er sich übergab. Seine Knie wurden weich und er ging in die Hocke. Als er sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte, hörte er eine Stimme seinen Namen sagen.

Doch es war nicht Faina, die da fragte.

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