Heilige Scheiße

34 8 8
                                    

Wie seine Schwester „Heilige Scheiße!" rief, war das erste, was er hörte.
Dann die Stimme seiner Großmutter: „Selena!"
Und darauf seine Mutter: „Irgendwie hat sie Recht."

Schließlich: „Kilian? Was ist los? Was ist passiert?" Lus Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm, obwohl sie direkt neben ihm saß.
Blinzelnd wandte er sich zu ihr um.
„Du- du hast nichts gesehen?" Sie schüttelte den Kopf.
„Also auch nichts gehört?" Erneutes Kopfschütteln.

Kilian ließ Luft aus seiner Lunge entweichen, von der er gar nicht gemerkt hatte, dass er sie angehalten hatte. Er würde Lu alles erzählen. Wirklich alles. Aber das nicht. Wenn Lu wüsste, dass sich jemand für ihn opfern musste, wäre sie die erste, die aus dem Fenster spränge. Das wusste er, weil er genau dasselbe für sie machen würde.

„Die Göttin ist erschienen. Ich bin noch zu überwältigt, um darüber zu sprechen, sorry", sagte er lahm und hoffte, dass Lu es ihm abkaufen würde.
Sie pfiff durch die Zähne.
„Eine echte Göttin?"
Er nickte.
„Heilige Scheiße."
Er nickte erneut.

Kilian sah die Frauen in seiner Gegenwart an und schwor sich, dass er nicht zulassen würde, dass eine von ihnen sich für ihn opfern würde. Niemand sollte das tun. Das war Irrsinn.

Und so machte sich Kilian darauf gefasst, zu sterben. Und da er nun nicht dazu verdammt war, weil es keinen Ausweg gab, sondern er sich selbst dazu entschied, den Weg nicht gehen zu wollen, fühlte es sich gar nicht so schwer an. Er musste nur die nächsten Tage verhindern, dass jemand in seiner Familie sein Leben für ihn ließ.

Auf dem Heimweg scrollte er durch seine Social Media-Apps und schrieb ein paar Nachrichten. Es war zwar mitten in der Nacht, aber er war sich sicher, dass sie ihre Empfänger erreichen würden.

Natürlich verirrte er sich nicht auf Fainas Profil. Und natürlich las er nicht minutenlang durch ihren Feed. Er klickte sich auch nicht durch ihre Bilder. Das wäre ja Folter. Und dumm.

Mit einem schweren Gefühl in der Brust legte er das Handy weg und lauschte den gemurmelten Gesprächen im Auto. Sie waren herrlich belanglos. Es wurde besprochen, dass Lu in Sallys Zimmer schlafen würde, da in diesem ein Ausziehsofa stand. Lu protestierte, dass sie gern auf Kilians grüner Couch schlief, niemand solle sich Umstände machen. Klara lachte herzhaft darüber, dass sie auch gerne noch einmal so einen jungen Rücken hätte und so fort. Kein Tod, keine Trennung, keine Trauer.

Noch war niemand empört, wütend oder verzweifelt. Niemand war entsetzt, dass er entschieden hatte, sein Schicksal anzunehmen. Kilian genoss die Ruhe vor dem Sturm.

*

Wieder zu Hause fiel er erschöpft ins Bett. Trotz seiner Müdigkeit fiel es ihm noch lange schwer einzuschlafen und er wälzte sich hin und her. Als es ihm schließlich doch gelang, träumte er von Woda.
Der Geruch nach Moos umfing ihn in einer vertrauten Umarmung und das Rauschen der Blätter flüsterte ihm ins Ohr. Kilian blickte sich um. Er befand sich auf der Lichtung, die er in seinen Träumen immer besuchte und wie immer war es ein warmer Sommertag. Mittlerweile wusste er, dass etwa zwanzig Minuten in die eine Richtung das Dorf der Druiden lag, doch ihn zog es heute zum Wasser hin. Nach ein paar Augenblicken des Wandelns hatte er den eigentlich halbstündigen Weg bis zum See zurückgelegt und machte an seinem Ufer halt. Keine Nebelschwaden trübten die Aussicht auf das glitzernde Nass und Kilian ließ sich auf den Boden sinken, um dem Wellenspiel zuzusehen.
„Kilian", hörte er schließlich eine Stimme neben sich sagen. Doch es war nicht die Stimme, die er erwartet hätte. Wäre es Radha gewesen, hätte es ihn kein bisschen gewundert, doch als er sich zur Seite umwandte, sah er seinen Vater neben sich sitzen.
Die dunklen Haare fielen ihm in das kantige Gesicht. Eine alte Sehnsucht nagte an Kilian, doch die Wunde schmerzte nicht mehr so wie früher. Er verspürte lediglich ein bedauern, dass dieser Mann ihn so früh hatte verlassen müssen. Aber die Hoffnung, bald wieder mit ihm vereint zu sein, hob seine Stimmung.
„Wie kannst du hier sein?", fragte er seinen Vater schließlich und sah zu, wie der dunkle Bart um seinen Mund herum zuckte. Ein schelmisches Lächeln breitete sich aus.
„Das musst du mir erklären. Es ist dein Traum."
Auch, wenn er nicht verstand, wieso, musste Kilian lachen. Woda war immer für eine Überraschung gut. Die Miene seines Vaters füllte sich nach einem kurzen Lachen jedoch mit Bedauern.
„Der Wald spricht. Die Bäume flüstern. Das Wasser murmelt. Ich habe gehört, dass Du deinen Kampf aufgeben und dich dem Tod ergeben willst?"
„Ganz so einfach ist es nicht", warf er ein, doch die gehobene Augenbraue seines Vaters ließ ihn stocken.
„Jemand müsste sich für mich opfern und das will ich nicht", verteidigte er sich und seinen Entschluss. Sein Vater ließ die zweite Augenbraue der ersten folgen.
„Und weil du diesen Weg nicht gehen willst, willst du nun einfach aufgeben?"
„Es gibt nur diesen Weg."
„Es gibt nie nur einen Weg."
„Ich habe keine Zeit für einen anderen Weg!"
„Du hast Magie." Die Stimme seines Vaters klang nun hohl und blechern, als würde er ihn durch ein selbstgebasteltes Dosentelefon hören und Kilian bemerkte, wie seine Umrisse unscharf wurden. Auch der Wald begann, sich langsam aufzulösen und er schlug in seinem Bett die Augen auf.

WitchboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt