Taken by a stranger. Or two.

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Leon Stein hatten sie sehr einfach über soziale Medien gefunden.
„Fünf gemeinsame Freunde", mümmelte Lu zwischen zwei Bissen der Waffeln hervor, die Kilians Großmutter ihnen heute früh serviert hatte. Es war kurz nach sieben Uhr morgens und sie saßen mit Laptop, Handys und Schreibblock bewaffnet auf dem Sofa.

„Wirklich? Wer denn?", fragte Kilian. Und blickte über ihre Schulter auf den Handybildschirm.
„Leute aus der Schule. Hier Jannis und Tim kennst du auch."
Kilian brummte. Die Stadt war wirklich nicht so groß, wenn man sich ansah, wen man alles über Ecken kannte. Lu tippte auf ihrem Bildschirm herum.
„Und jetzt hab ich ein Date mit ihm", sagte Lu. Kilian hob staunend die Augenbrauen.

„Hä?" War das Klügste, was er gerade sagen konnte.
„Ich habe ihn gefragt, ob er sich heute Nachmittag mit mir auf einen Kaffee treffen würde und er hat zugesagt."
„Einfach so?"
„Natürlich einfach so."
„Aber wieso?" Kilian war völlig baff. Wenn er überlegte, wie er ein Mädchen kennenlernen könnte, blieb es meistens genau dabei: Überlegen. Er dachte Tage oder sogar Wochen nach, machte Pläne, ging in seinem Kopf Gespräche durch, überlegte, was schiefgehen könnte und ließ es dann für gewöhnlich sein. Außer es ergab sich zufällig in einer Situation ein Gespräch. Dann hatte er auch kein Problem mit Mädchen zu sprechen. Aber den Anfang machen? Unmöglich.

„Ich bin hübsch", sagte Lu im Brustton der Überzeugung. „Und ein Mädchen", fügte sie hinzu.
„Und bescheiden", sagte Kilian und wich dem Tritt aus, den sie in seine Richtung zielte.

Doch Nils Brück war nirgends zu finden.
"Ich habe eine Idee", sagte Kilian schließlich. „Sie ist irgendwie dumm. Aber sie könnte funktionieren."
Kilian und Lu suchten die Telefonnummern der weiterführenden Schulen aus der Umgebung heraus und teilten die Liste auf. 54 Schulen kamen infrage. Wenn es bei keiner von diesen klappte, konnten es theoretisch noch 17 weitere sein.

„Guten Morgen, Brück ist mein Name, ich wollte meinen Sohn Nils für heute krankmelden", sagten sie also simultan in zwei verschiedenen Ecken des Wohnzimmers immer und immer wieder in ihre Handymikrofone.
„Ach, Verzeihung, da hab ich wohl die falsche Nummer rausgesucht. Schönen Tag noch", sagte Kilian gerade zum dreizehnten Mal hintereinander. Lu hatte bereits 15 schulen angerufen und legte ebenfalls gerade auf. 28 erledigt. Es war schon kurz vor acht. Bald würde die Nummer sehr unplausibel werden. Doch bisher hatten sie beide nur Variationen von „Hier gibt es keinen Nils Brück" gehört.
Kilian rief seine Nummer 14 an.

„Guten Morgen, Brück hier. Ich wollte meinen Sohn Nils für heute krankmelden", sagte er gerade wieder und machte sich schon zur Entschuldigung bereit, als die Sekretärin fragte: „Nils Brück aus der 9f?". Verdattert bejahte Kilian. „Okay, ich notiere es und leite es weiter. Auf Wiederhören, Herr Brück."
„Ja, auf Wiederhören." Kilian legte auf. Es war ein Gymnasium in der Innenstadt.
„Yay!", jubilierte Lu und stieß eine Faust in die Luft. Dann ließ sie sie langsam sinken. „Und jetzt?", fragte sie.
„Jetzt beeilen wir uns und fahren in die Innenstadt, um die Klasse 9f des ELG zu finden und Nils dort rauszuholen", erklärte Kilian, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.

Da die Zeit drängte, fuhr Kilians Großmutter die beiden mit dem Auto in die Innenstadt und ließ sie vor den Toren der Schule aussteigen. Dann suchte sie einen Parkplatz. Kilian sah auf die Uhr. 8:05 Uhr. Laut Schulhomepage begann der Unterricht um 8:10 Uhr.
„Wir haben maximal zehn Minuten Zeit, um den richtigen Raum zu finden", instruierte Kilian Lu, die nickte und auf eine Gruppe von Schülerinnen zulief, bevor Kilian noch etwas sagen konnte. Sie tippte eins der Mädchen an, lächelte verlegen und wechselte ein paar Worte mit ihr, bevor sie breit grinste und sich verabschiedete.

„Hast du es herausgefunden?", fragte Kilian schon wieder verblüfft.
„Nein", gab Lu zurück. „Das sind Schülerinnen aus der elften Klasse, die von der Realschule hierhergewechselt haben. Die wissen leider nicht, wo die Mittelstufenklassenräume sind."
„Wäre auch echt unfair von dir gewesen, wenn du auch hier wieder einfach so gepunktet hättest", maulte er. Lu lächelte schelmisch. „Wart's ab", sagte sie und sprach eine Gruppe jüngerer Schüler an. Wieder lächelte sie erst einmal verlegen. Dann blinzelte sie ein paar Mal, während sie sprach und grinste erneut breit. Kilian wollte gerade die Zeit nutzen und selbst einen Jungen ansprechen, der neben ihm herging, als Lu strahlend auf ihn zujoggte. Kilian schüttelte verwundert den Kopf.
„Ich glaube, du bist die eigentliche Hexe von uns." Mit gespieltem Argwohn musterte er sie.
„Die Magie der Sozialkompetenz, ich weiß. Komm", sagte sie nur und zog ihn an der Hand hinter sich her. Es klingelte und die letzten Schülerinnen und Schüler verschwanden in ihren Klassenzimmern kurz bevor Kilian und Lu den Raum erreichten.

Kilian klopfte an die Tür und öffnete sie. Da er die Lehrpersonal im Raum nicht kannte und sich nur zu gut an seinen Erdkundelehrer erinnerte, der Unterbrechende immer und immer wieder aus dem Raum geschickt und hereingebeten hatte, bis sie sich in seinen Augen vernünftig verhalten hatten, setzte er sein freundlichstes Schuljungenlächeln auf und spulte seinen Text ab:
„Guten Morgen, entschuldigen Sie bitte die Störung" - man kann sich nämlich nichts selbst entschuldigen, hatte Herr Schneider immer gepredigt - „ich müsste bitte kurz mit Nils Brück sprechen, falls das in Ordnung ist."
Die Lehrerin sah ihn kaum an und nickte nur. Ein Junge - Kilian stellte mit innerem Augenrollen fest, dass es der war, den er vorhin hatte ansprechen wollen - stand auf und kam auf ihn zu. Auffordernd öffnete Kilian die Tür und bedeutete Nils ihn nach draußen zu begleiten. Der Junge musterte ihn aus blauen Augen, die ihn unter einer wilden braunen Haarmähne hervor anblitzten. Er sah misstrauisch aus, doch er kam trotzdem mit.

Jetzt kam der wirklich schwere Teil.

Der Stille des Schulflurs wurde nur vom gedämpften Summen der Neonlichter begleitet, als Nils die Tür hinter den beiden schloss. Sein Blick fiel auf Lu und seine Augenbrauen hoben sich.
„Wer seid ihr? Was soll das?"
Kilian sagte so ruhig er konnte, obwohl sein Herz ihm bis zum Hals schlug: "Guten Morgen, Nils. Ich bin Kilian, das ist Lu." Lu winkte lächelnd.
Nils musterte die beiden, eine Mischung aus Überraschung und Neugier in seinen Augen. Ein zustimmendes Nicken signalisierte Kilian, dass er weitermachen konnte.

"Ich hab da etwas gehört, Nils. Etwas, das nicht leicht zu erklären ist", begann Kilian vorsichtig. Er kam sich so dämlich vor. Hätte er nicht einen Hagrid-Cosplayer bitten können, das Ganze zu erledigen?
Nils runzelte die Stirn, "Was meinst du?"
„Ich werde dir jetzt etwas erzählen, was ziemlich abgedreht klingt. Bitte hör mich zu Ende an, okay?"
Misstrauen funkelte in den blauen Augen, doch Nils nickte zögerlich.
"Ich habe den Verdacht, dass in dir magische Kräfte schlummern. Etwas, das sich noch nicht gezeigt hat, aber da ist. Und deshalb brauche ich  deine Hilfe."

Nils grinste zuerst spöttisch, seine Mundwinkel senkten sich jedoch langsam wieder, als er zwischen Kilian und Lu hin und herblickte. Schließlich hob er skeptisch eine Augenbraue. "Magie? Du machst wohl Witze."
"Ich weiß, es klingt absurd. Aber ich habe die Information aus einer sicheren Quelle. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß es."
Nils schnaubte leicht. "Du weißt es? Was soll das denn heißen?"
Kilian nickte. "Ja, ich kann dir später genau erklären, woher ich deinen Namen kenne, aber das ist jetzt alles zu kompliziert."

Nils zog misstrauisch beide Augenbrauen zusammen. "Was versuchst du hier, Kilian? Irgendeinen Prank?"
Kilian seufzte. "Ich verstehe, dass es verrückt klingt. Aber ich meine es ernst. Ich würde niemals deine Zeit verschwenden, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, dass du etwas Außergewöhnliches bist." Und hier war der Schlüssel. Ihm das Gefühl zu geben - oder eher zu bestätigen - dass er etwas Besonderes war. Jeder Teenager hielt sich für außergewöhnlich. Nun musste er weiter überzeugend bleiben.
Nils runzelte weiter die Stirn. "Magie? Ernsthaft?"

Kilian nickte ernst. "Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Aber ich bitte dich, mir zu glauben. Wenn du mit uns mitkommst, erkläre ich dir alles und beantworte deine Fragen." Genau für diesen Augenblick hatte er einen kleinen Trick geübt. Er schnippte mit den Fingern und kleine Funken stoben wie bei einem Feuerzeug. Nils' Augen wurden weit.
Eine Weile stand er schweigend da, seine Skepsis deutlich im Kampf mit seiner Faszination. Schließlich sagte er zögernd: "Also gut. Aber wenn das hier ein Witz ist, dann..."
"Es ist kein Witz, versprochen", unterbrach ihn Kilian.

Nils nickte unsicher, und Kilian spürte, dass er zwar Zweifel hegte, aber dennoch bereit war, sich auf dieses ungewöhnliche Abenteuer einzulassen.
„Was ist mit meinem Unterricht?", fragte er.
„Du musstest dich gerade hier auf dem Flur übergeben. Ich gehe rein und sage es deiner Lehrerin. Krankgemeldet haben wir dich schon", erklärte Kilian. Nils blinzelte.
„Krankgemeldet?"

„Ich erklär's dir", sagte Lu mit einem verschwörerischen Zwinkern, während Kilian zurück in den Klassenraum ging und von Nils' Unpässlichkeit berichtete.
„Ich werde ihn zum Sekretariat begleiten, keine Sorge", sagte Kilian noch zu der Lehrerin, die nur nickte und etwas ins Klassenbuch kritzelte. Kilian verabschiedete sich höflichst und schloss die Tür hinter sich.

WitchboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt