Ein heißer Tipp

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Klara hatte sich direkt nach der Unterhaltung ins Bett begeben. Sie hatte sie lediglich gebeten, vorsichtig zu sein und Sara nichts von der Geisterbeschwörung zu erzählen. Nun, wo er sich wieder erinnerte, war das für ihn ganz klar. Seine Mutter würde es nur unnötig traurig machen, zu wissen, dass ihre Kinder mit dem Geist ihres verstorbenen Mannes sprachen. Auch wenn die Beschwörung eines nahestehenden Geistes mithilfe eines Ouija-Bretts sehr leicht war, war sie sehr anstrengend für alle Beteiligten und kostete vor allem den Geist viel Energie. Man sollte sich also immer gut überlegen, ob man seinen Angehörigen solche Strapazen zumuten wollte. Deshalb war seine Mutter strikt dagegen, die Ruhe der Toten zu stören.
Gut, dass sie nicht wusste, was er gestern Abend getan hatte. Kilian  musste bei dem Gedanken schlucken, wie weit er zu gehen bereit war.
Und dann fiel ihm ein, dass er Faina gar nicht mehr kontaktiert hatte. Er wollte sich unbedingt dafür entschuldigen, wie Selena sie behandelt hatte und dafür, dass er nicht eingeschritten war. Er schrieb ihr schnell eine Nachricht:
Hey, ich weiß, dass ich mich früher hätte melden sollen, aber es sind ganz viele Dinge geschehen. Falls du nach dem Auftritt meiner überprotektiven Schwester noch mit mir reden willst, erzähle ich dir alles.
Kilian überlegte, ob er noch etwas schreiben sollte, setzte immer wieder an und löschte dann alles wieder. Nein. Das würde erst einmal reichen müssen. So konnte er erst einmal einen virtuellen Zeh ins Wasser halten, um die Temperatur zu testen. Und um zu sehen, ob blutrünstige Piranhas darin schwammen. Er legte sein Handy auf den Schreibtisch, um nicht abgelenkt zu werden. Nach der Geisterbeschwörung konnte er dann Fainas Antwort lesen. Hoffentlich.
Also begaben sich Sally und Kilian erneut auf den Dachboden. Dieses Mal half er seiner Schwester dabei, die Kerzen anzuzünden. Anschließend setzten sie sich wieder auf den Boden - Selena wesentlich eleganter als Kilian - und atmeten tief ein und aus, bis sie beide so ruhig waren, dass es losgehen konnte. Die Geschwister legten ihre Hände auf den Zeiger des Ouija-Bretts und schlossen ihre Augen.
Wieder sagte Sally dreimal hintereinander: "Wir suchen den Geist unsere Vaters Marcus Henot, geborener Schneider."
Dieses Mal spürte Kilian, wie sich die Atmosphäre veränderte. Die Flammen der Kerzen loderten kurz höher und der Zeiger begann sich leicht zu erwärmen.
"Papa, bist du da?", fragte Sally und Kilian spürte, wie sein Herz einen kleinen Hüpfer machte, als das Holzdreieck sich auf das JA in der Mitte zubewegte.
Kilian holte tief Luft. Nach sechs Jahren konnte er mit seinem Vater kommunizieren. Dass er vor ein paar Wochen diese Art der Kommunikation noch völlig abgelehnt hätte, erschien ihm nun lächerlich. Die Bibliothekseskapade hatte also doch auch ihre Vorzüge; hätte er seinen Vater und den Fluch, der ihn umgebracht hatte, nicht vergessen, hätte er sich niemals auf Methoden der Magie eingelassen. Nun war er auf eine ganz eigenartige Weise aufgeregt. Nicht nervös, sondern eher freudig. Er hatte - ganz im Gegensatz zu gestern - kein mulmiges Gefühl, keine Furcht, keine negativen Gedanken, die ihn zögern ließen. Er war froh, mit seinem Vater sprechen zu können. Wenn auch nur durch ein Ouija-Brett.
„Ich brauche deine Hilfe", sagte er schließlich. Der Zeiger vibrierte leicht. Das Ouija-Äquivalent des nachdenklichen Brummens, das sein Vater immer von sich gegeben hatte. Kilian schmunzelte. Leider hatten sie nicht viel Zeit, da es viel Energie kostete, die Verbindung aufrecht zu erhalten. Dabei hätte er ihn gern so viele Dinge gefragt. Sally hatte ihm bereits erklärt, dass Geister nichts über das Totsein verraten konnten, aber er wüsste gern, wie es ihm ging, ob er ihn beobachtete, hätte ihn gern um Rat in Bezug auf seine verzwickten Mädchengeschichten gefragt. Doch er musste sich fokussieren.
„Ich muss das Schwert Gram finden, das Siegfried aus dem Nibelungenlied gehörte." Wieder ein kleines Vibrieren.
„Kannst du mir sagen, wo es ist?" Der Zeiger bewegte sich.

NEIN

Kilians Herz schien ein erhebliches Stück nach unten zu rutschen. Wenn nicht einmal der Geist seines Vaters ihm verraten konnte, wo dieses blöde Schwert sich befand, war er nun völlig ratlos. Er war schließlich ein Geist und Archäologe. Wer, wenn nicht er sollte ihm einen Anhaltspunkt geben können?
Doch dann sagte seine Schwester: „Du musst manchmal einfach deine Fragen anders stellen." Kilian hob eine Augenbraue.
Seufzend fragte Sally:
„Kannst du uns sagen, wo Kilian suchen kann?"
Wieder bewegte sich der Zeiger. Diesmal zurück auf JA. Doch dort machte er nicht Halt, sondern rutschte weiter. Kilian hielt unwillkürlich die Luft an.

T-R-A-U-M

Stillstand.
"Traum? Was soll das heißen?", warf Kilian in den Raum, während sein Geist schon dutzende Anknüpfungspunkte suchte.
"Warte doch mal ab", sagte Selena und sah weiter auf das Brett mit den Buchstaben.

W-A-L-D

"Traum, Wald. Was soll-" Kilian brach die Frage ab. Er hatte eine Eingebung.
"Meinst du den Wald, von dem ich immer wieder geträumt habe?", fragte Kilian den Geist.
"Der, in dem du an deinem Geburtstag aufgewacht bist?", fragte ihn seine Schwester und er nickte.

JA

"Diesen Wald muss ich finden?" Das war ein Anhaltspunkt. Kilian fiel ein Kiesel vom Herzen. Der große Fels blieb jedoch unbewegt. Wie sollte er diesen Wald finden? Wie sollte das möglich sein?
Eine Kaskade von Fragen ergoss sich in seinem Kopf, die ihn so ablenkte, dass er erst nach einigen Momenten bemerkte, dass die Kerzen flackerten.

„Ich glaube, wir müssen uns jetzt wieder verabschieden", sagte Sally schließlich mit belegter Stimme und das leichte Zittern des Zeigers bestätigte ihre Äußerung.

„Danke, Papa. Ich hoffe, dass ich einen Weg finde, um etwas mit deinem Hinweis anzufangen", murmelte Kilian in Gedanken versunken.

Der Zeiger bewegte sich noch einmal:

L-I-E-B-E

Dann stand er still.
„Wir dich auch, Papa", antworteten die Geschwister wie aus einem Munde. Kilian sah eine Träne, die die Wange seiner Schwester herunterkullerte. Er wollte sie trösten, wollte irgendetwas sagen, doch er kam nicht dazu. Eine betäubende Welle der Müdigkeit überrollte ihn und er konnte sich gerade noch auf den Boden des Dachbodens legen, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel.

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