Regeln

39 3 4
                                    

Die Luft in dem romantisch angelegten Garten knisterte vor Spannung, als die letzten Worte von Maya von Borcke verklangen. Kilian konnte die steigende Anspannung förmlich spüren, als Helena versuchte, Edna weiter anzustacheln.

"Edna, wir müssen uns an die Regeln halten," zischte sie, ihre Stimme schneidend und scharf. "Das Gesetz des Covens ist klar: keine Unterstützung bei der Initiation."

Edna reagierte nicht. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie ihre Enkelin an.

Ein Murmeln ging durch die Menge der versammelten Hexen. Immer mehr Stimmen mischten sich ein, manche leise und zögernd, andere laut und fordernd. Edna von Borcke schloss die Augen und atmete tief ein, als würde sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen. Währenddessen wurde die Diskussion zwischen den Umstehenden immer hitziger, Keifen und Zischen war zu hören, und Kilian wusste, dass er etwas tun musste, um eine Eskalation zu verhindern.

Er schaute zu Faina hinüber, sie fing seinen Blick auf und nickte. Also griff Kilian erneut in seinen Rucksack und holte das Kitschhalsband des Todes hervor.

Das einst verschollene Collier aus Gold, das Sidonia von Borcke, Ednas Urahnin, gehört hatte, funkelte im Licht der Fackeln. Kilian hielt es hoch, und sofort kehrte eine gespannte Stille ein. Alle Augen richteten sich auf ihn.

"Edna! Ich biete dir dieses Amulett gegen das Leben der Hexen , die für mich eingetreten sind. Verschone, Selnea, Faina und deine Enkelin Maya und es gehört dir," rief er, seine Stimme fest und entschlossen.

Edna und ihre Tochter Larissa japsten hörbar nach Luft und starrten ihn an. Ihre Augen weiteten sich vor unverhohlener Gier. Sie wollten das Amulett unbedingt haben. Kilian konnte förmlich spüren, wie die beiden von Borcke-Frauen dieses Erbstück an sich reißen wollten. Als wäre es mehr als nur ein kitschiges Goldhalsband. Kilian sah die Berechnung in ihren Blicken, das Verlangen, es an sich zu bringen. Die beiden Frauen erhoben sich gleichzeitig, und Kilian erkannte die Gefahr.

Er duckte sich, als eine Druckwelle über seinen Kopf hinwegfegte. Larissa stand noch mit ausgestreckter Hand da und sah ihn auffordernd an.

"Dieses Collier gehört uns. Du hast keine Befugnis, es anzufassen und ich verlange, dass du es mir aushän-" Mitten im Wort brach sie ab und würgte. Verwirrt musterte Kilian die Frau, als er ein Murmeln hinter sich hörte. Eine ihm unbekannte Hexe hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und sprach vor sich hin. Larissas feindseligem Blick in ihre Richtung nach zu urteilen, war diese Frau der Grund für ihre Halsprobleme.

Helena Bernauer schlug mit der Faust auf den Tisch und rief nach Ordnung, doch sie erreichte genau das Gegenteil.

Ein magischer Kampf entbrannte. Funken flogen, als Zauber und Gegenzauber aufeinanderprallten. Edna und Larissa kamen auf ihn zu, aber Kilian war vorbereitet. Er ließ das kitschige Halsband auf den Natursteinboden fallen, wodurch er ein Fauchen Ednas provozierte, und hob das Schwert darüber. Drohend hielt er es über das Collier.

"Ich werde es zerstören, wenn ihr nicht sofort aufhört!" schrie er und seine Stimme hallte über das Gelände.

Edna und Larissa hielten inne, und auch die anderen Versammelten erstarrten. Erneut schauten ihn alle an. Faina war neben ihn getreten und lächelte grimmig.

Die Blicke der beiden erwachsenen von Borckes waren voller Hass und Wut auf das am Boden liegende Schmuckstück gerichtet. Die Luft schien für einen Moment still zu stehen, als jeder die nächsten Sekunden abwartete.

Doch Edna war offenbar nicht bereit, so einfach aufzugeben. Heimtückisch streckte sie die Hand nach Faina aus. Blitze zuckten über ihre Fingerspitzen, als sie auf das Mädchen zielte. Kilian sah es gerade noch rechtzeitig. Ohne zu zögern, schlug er mit Gram auf das goldene Halsband ein und stieß im Schwung der Bewegung Faina grob zur Seite.

Larissa schrie entsetzt auf. Edna wollte auf ihn losgehen. Doch ein gleißendes Licht erfüllte den Garten, und alle Anwesenden mussten die Augen schließen. Als das Licht nachließ, war das Collier unversehrt, aber eine mächtige Präsenz erfüllte das Gelände. Kilian hatte dieses Gefühl von Ehrfurcht schon einmal verspürt. Er traute sich kaum seinen Blick zu heben, seine Knie zitterten und sein Schwert fiel klirrend aus seiner Hand.

Die dreifaltige Göttin erschien, ihre Gestalt strahlend und erhaben. Ihre Stimme war wie Donner und doch sanft wie ein Sommerregen. Jung und alt, Leben und Tod, Freude und Schmerz. Sie war das Leben.

"Die Regeln die in diesem Coven tradiert werden, entsprechen schon lange nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck. Einst sollten sie Hexen vereinen und den Ausgestoßenen eine Gemeinschaft sichern. Doch der Lauf der Zeit hat etwas entstehen lassen, dessen grausame Auswüchse ich nicht dulden kann" verkündete sie. "Es liegt in der Natur der Magier, dass alle Geschlechter ihrer mächtig sein können und ich habe zu lange weggesehen, als hier und in anderen Covens ein Irrweg verfolgt wurde."

Absolute Stille herrschte im Garten, nicht einmal Umgebungsgeräusche waren zu hören. Keine Vögel, keine Autos, nicht einmal der Wind wehte.

"Ich erkläre hiermit, dass auch Jungen zur Ausbildung in den magischen Künsten zugelassen werden."

Er hörte, wie jemand hinter ihm, vermutlich Helena scharf die Luft einsog, doch niemand traute sich zu sprechen.

"Und die Initiation in eine Gemeinschaft sollte keine Auslese sein, sondern eine Vorbereitung. Sich Hilfe zu suchen und sie zu geben, ist das schwesterlichste, was es gibt. Wollt ihr einander wirklich dafür bestrafen? Ich überlasse diese Frage euch. Doch wägt gut ab, wie ihr entscheidet."

Ein Raunen ging durch die Menge. Die Göttin blickte auf Kilian herab und sprach direkt zu ihm. Völlig regungslos starrte er auf seine Füße, als das mächtige Wesen vor ihm das Wort an ihn richtete. "Solltest du es noch wollen, kann ich dich von deinen Kräften befreien."

Er hob den Blick. Helles Licht, Vage Umrisse einer Frau. Nein, dreier Frauen. Oder doch nur einer? Die Jungfrau, die Mutter und die Alte. Ihr Anblick verwirrte seinen Geist und füllte sein Herz.

Kilian zögerte. Die Worte der Göttin hallten in ihm nach. Er dachte an all die Kämpfe, die er durchgestanden hatte, an die Unterstützung, die er erhalten hatte, und an die Zukunft, die vor ihm lag. Er sah zu Faina, die ihm aufmunternd zulächelte, und zu seiner Familie auf dem Bildschirm in ihrer Hand.

"Nein," sagte er schließlich, seine Stimme fest. "Ich werde meine Kräfte behalten und lernen, sie zu nutzen. Für mich und für diejenigen, die mir geholfen haben." Er Schluckte und stellte hastig noch eine Frage, bevor er es sich anders überlegen konnte:

"Aber darf ich meine Magie in Woda erkunden?"

Auch wenn Kilian es in dem nebulösen Gesicht nicht genau erkennen konnte, fühlte er, dass die dreifaltige Göttin lächelte, bevor sie nickte und in einem letzten strahlenden Lichtblitz verschwand .

WitchboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt