Schüler

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Seine Kräfte loswerden. Ein normales Leben führen. Einfach Kilian sein. Das war sein Ziel gewesen. Ein friedliches, unaufgeregtes Leben, das war alles, was er je gewollt hatte – oder zumindest alles, was er sich jemals vorgestellt hatte. Aber jetzt, in diesem Augenblick, schien dieses Verlangen seltsam fern, fast wie ein verlorener Traum aus einer längst vergangenen Zeit.

Er hob den Blick, um die Erscheinung im Zentrum des Gartens zu betrachten. Ein helles, strahlendes Licht erfüllte die Luft, als wären die Sterne selbst herabgestiegen. In diesem Licht erkannte Kilian die vagen Umrisse einer Frau, nein, dreier Frauen. Oder war es doch nur eine? Es war unmöglich, die Gestalten zu trennen – die Jungfrau, die Mutter und die Alte verschmolzen zu einer einzigen allgegenwärtigen Präsenz. Ihr Anblick verwirrte seinen Geist, doch zugleich erfüllte sie sein Herz mit einer überwältigenden Mischung aus Ehrfurcht und tiefem Frieden. Für einige unendlich lange Augenblicke konnte er nichts wahrnehmen außer der mächtigen Entität, die ihn erwartungsvoll musterte, als würde sie jede nseiner Gedanken und all seine Sehnsüchte durchschauen.

Die versammelten Hexen um ihn herum schienen den Atem anzuhalten, gebannt von der göttlichen Erscheinung. Noch immer wagte niemand auch nur zu flüstern, die Zeit schien stillzustehen.

Kilian zögerte. Die Worte der Göttin hallten in seinem Inneren nach, wie ein fernes Echo, das ihm gleichzeitig vertraut und fremd erschien. Seine Gedanken wanderten zurück zu all den Kämpfen, die er überstanden hatte, den Momenten, in denen er nicht gewusst hatte, ob er es jemals bis zu diesem Zeitpunkt hier schaffen würde. Er dachte an die Unterstützung, die er erhalten hatte, an die Menschen, die ihm geholfen hatten, selbst als er nicht darum gebeten hatte, und an die Zukunft, die wie ein Nebel am Horizont vor ihm lag. Er sah zu Faina, die ihm ein ermutigendes, warmes Lächeln schenkte, und dann zu seiner Familie, die auf dem Bildschirm in ihrer Hand leuchtete, so fern und doch so nah.

All dies hier hatte er niemals gesucht, niemals gewollt. Initiation. Akademie. Coven. Doch nun, in diesem Moment, spürte er, wie die Magie in ihm pulsierte, wie ein lebendiger Strom, der durch seine Adern floss. Es war wie eine unsichtbare Umarmung, tröstlich und stark, fast so vertraut wie die Umarmungen von Lu oder Selena, nur dass es in seinem Inneren war, tief in seinem Wesen verwurzelt.

Ein lauter Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Eine Krähe, schwarz wie die Nacht, saß regungslos auf dem Dach des Hauses. Ihre Präsenz war unheimlich, und doch konnte er nicht anders, als seinen Blick auf ihr ruhen zu lassen. War es Zufall? Oder ein Zeichen? Die Augen der Krähe waren aus dieser Entfernung nicht zu erkennen, doch Kilian wusste einfach, dass sie blau sein mussten. Radha beobachtete ihn. Diese Erkenntnis schoss durch seinen Kopf wie ein Blitz, und plötzlich fühlte er sich, als ob das Schicksal selbst ihn anblickte, ihn prüfte. Der Vogel legte den Kopf schief, seine schwarzen Federn glänzten im Licht der Göttin, und dann, mit einem erneuten, krächzenden Ruf, ergriff Kilian eine Idee. Eine Idee, die in ihm wuchs, bis sie Form annahm und klar vor seinem inneren Auge erschien.

Er begann langsam den Kopf zu schütteln. „Nein," sagte er schließlich als Antwort auf das Angebot der Göttin, seine Stimme klang fest und entschlossen, während die Bedeutung seiner Worte in ihm nachhallte. „Ich werde meine Kräfte behalten und lernen, sie zu nutzen. Für mich und für diejenigen, die mir geholfen haben." Ein Gefühl der Bestimmung durchströmte ihn, als er diese Worte aussprach. Ein letztes Mal schluckte er und stellte die Frage, die ihm beim Anblick der Krähe so klar und bedeutungsvoll in den Sinn gekommen war: „Aber darf ich meine Magie in Woda erkunden?"

Obwohl Kilian das Gesicht der dreifaltigen Göttin nur schemenhaft erkennen konnte, fühlte er die Wärme eines Lächelns, das von ihrem ganzen Wesen ausging, als sie ihm sanft zunickte und in einem letzten, strahlenden Lichtblitz verschwand.

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