Der Schmerz

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„Ich kann das nicht!" Frustriert schleuderte Kilian den Kiesel in seiner Hand in den großen See. Er sollte den Stein in seiner Handfläche schweben lassen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Mit einem glucksenden "Plumps" versank der Kiesel und mit ihm Kilians Hoffnung.

Neben ihm öffnete Radha ihr rechtes Auge, um zu ihm herüberzusehen. Er rechnete mit Spott oder Zurechtweisung, doch sie sprach ganz ruhig mit ihm:

"Das dritte Auge öffnet sich nicht von selbst und es lässt sich auch nicht durch Zwang öffnen. Es erfordert Übung und Achtsamkeit."

"Für Übung brauche ich Zeit und die habe ich nicht. In weniger als zwei Wochen werde ich umgebracht", stöhnte er frustriert.

"In Woda brauchst du nicht länger, Kilian."

"Was meinst du damit?"

"Woda wird dich dabei unterstützen, dein Ziel in der Zeit zu erreichen, die dir zur Verfügung steht. Du musst ihn nur lassen." Radha lächelte ihn an, als hätte sie ihm gerade einen Witz erzählt und würde darauf warten, dass er endlich lachte.

In Kilians Kopf ratterte es. Er war am Abend des 21. Januars zu Hause in die Badewanne gestiegen. Bis Imbolg waren es also noch elf, oder eher zehn Tage. Konnte er sich wirklich darauf verlassen, dass Woda ihm helfen würde, seine Magie so zu beherrschen, dass er Gram rechtzeitig finden würde? Da er keine andere Wahl hatte, würde er darauf vertrauen müssen. Er atmete tief ein und aus, bevor er zu Radha sagte:

"Gut. Dann werde ich es weiter versuchen." Ein neuer Kiesel fand seinen Weg in Kilians Hand und wurde angestarrt.

*

Und so übte Kilian tagein tagaus mit Radha am See meditieren. Zwischendurch machten sie Pausen zum Essen und Schlafen und dann ging es wieder von vorn los.

Als er es am dritten Tag immer noch nicht schaffte, begann seine Frustration - und Angst - zurückzukehren. Als er Radha davon erzählte, brummte sie nachdenklich, bevor sie ihm eindringlich in die Augen sah.

"Etwas stimmt nicht."

Beunruhigt rutschte Kilian auf dem Kiesstrand hin und her.

"Da ist eine Blockade. Ein alter Schmerz", murmelte Radha offenbar eher zu sich selbst als zu ihm, als sie durch Kilians Augen in ihn hineinzublicken schien.

"Jemand - dein Vater?- ist durch Magie gestorben. Du warst klein."

Kilian schluckte und musste blinzeln, was natürlich nicht der Erinnerung an seinen Vater geschuldet war.

"Du musst dieses Trauma bewältigen, den Schmerz fühlen. Wenn du ihn verdrängst, kannst du dich nicht öffnen", erklärte sie ihm ungewöhnlich sachlich. Kilian biss sich auf die Unterlippe. Die Zeit, in der er seinen Vater vergessen hatte, war eine sorglosere Zeit gewesen. Und noch während er dies dachte, erschrak er vor sich selbst.

"Du musst nicht allein dadurch. Ich kann dir helfen. Wenn du mich lässt, werde ich dir das Tor zu dem Schmerz öffnen und ihn mit dir durchstehen. Es wird sehr wehtun, denn du wirst all die Jahre der Gefühle von Verlust, Angst und Frust auf einmal erleben. Aber dafür wird es schnell vorbeisein." Sie legte eine kühle Hand an seine brennende Wange. Schließlich nickte Kilian.

"Dann werde ich jetzt das Tor zu deinem dritten Auge freilegen." Fragen blickte Radha ihn an. Er nickt erneut.

"Nimm meine Hand. Drück sie so fest wie nötig. Ich halte alles mit dir aus", sagte sie noch, bevor sie ihm ihre linke Hand in seine legte und mit dem Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand gegen einen Punkt zwischen seinen Augenbrauen tippte.

Das war zwar unangenehm, aber weh tat es nicht.

Doch dann überrollte ihn eine Woge aus Schmerz, der ihn aufschreien ließ. Er konnte nichts mehr sehen, außer Dunkelheit und nichts fühlen außer Einsamkeit, Wut und Trauer. Hören konnte er nur seinen eigenen Schrei, dann nichts mehr. Er spürte, wie sich seine Hände verkrampften, dachte noch kurz daran, dass er Radha sicherlich schmerzen zufügte, bevor er das Gefühl für seinen Körper verlor. Blind, taub und verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit aus diesem Zustand zu entkommen. Er versuchte seinen Kopf zu drehen, doch er konnte sich nicht bewegen.

"Beweg deinen Geist", erklang eine weibliche Stimme aus dem Nichts. Er kannte sie, aber er wusste nicht, wer da gesprochen hatte. Trotzdem versuchte er ihre Wort umzusetzen, was wesentlich schwieriger klingt, als es tatsächlich war. Kilian stellte sich vor, er würde sich bewegen und tat es. In der Ferne konnte er ein Licht ausmachen. Golden, warm. Er bewegte sich darauf zu. Es war ein Tor. Ein großes goldgelb leuchtendes Tor. Als er es fast erreicht hatte, huschte ein Schatten durch sein Blickfeld. Ein Knurren erklang und zwei rot leuchtende Punkte kamen auf ihn zu. Die Sicht auf das Tor wurde ihm versperrt von einer schwarzen Gestalt mit Augen aus glühenden Kohlen.

Furcht ergriff Besitz von Kilian und er blickte sich hektisch um. Nur Dunkelheit. Verzweifelt machte er einen Schritt zurück, das Monster folgte. Mit einem animalischen Brüllen schlug es nach ihm. Der Schmerz, der ihn durchfuhr, war sengend heiß. Doch schlimmer war die Hoffnungslosigkeit, die ihn durchfuhr. Lähmend und zerstörerisch.

Das Ding lachte kehlig und griff nach ihm. Kilian hatte nicht die Kraft auszuweichen und ließ sich umklammern. Schmerz, Verzweiflung, Trauer, Angst.

Dann wieder die Stimme:

"Du schaffst das. Du bist stärker."

Ein kleiner Funke der Hoffnung flammte in ihm auf. Nicht viel, doch scheinbar genug, um das Monster zu verletzen. Es ließ jaulend von ihm ab. Das bestärkte Kilian noch mehr. Er trat einen Schritt auf die geballte Dunkelheit zu. Das Ding wich zurück. Die Kohlenaugen verengten sich zu Schlitzen, ein Grollen erklang, aber Kilian ließ sich nicht einschüchtern, sondern trat weiter vor. Und weiter. Als das Monster noch einmal brüllend auf ihn losgehen wollte, brüllte Kilian zurück. Er legte all seinen Schmerz und seine Wut, seinen Frust und seine Angst in diesen Schrei und das Ding verschwand. Hinter ihm öffnete sich das goldene Tor.

Kilian ging darauf zu. Geblendet von dem gleißenden Licht, konnte er zunächst nichts ausmachen, doch dann sah er Radha, die ihn anstrahlte.

Kilian war wieder in seinem Körper, konnte wieder das Licht des Tages sehen, das Rauschen der Blätter im Wald um ihn herum hören und die nassen Steine am Ufer vor ihm riechen. Und er konnte noch etwas wahrnehmen. Er konnte eine Wärme in seinem Inneren spüren, die vorher nicht dagewesen war. Ein behagliches Feuerchen, das vor sich hinloderte und sicherlich zu einem Großbrand werden könnte, wenn er es wollte.

"Du kannst meine Hand jetzt loslassen, weißt du", lachte Radha neben ihm und er merkte, dass er sie immer noch umklammert hielt. Radhas Hand war völlig zerquetscht, sie sah aus, als wären mehrere Knochen gebrochen. Kilian fühlte die Hitze von Scham in sein Gesicht steigen. Doch nur für einen Augenblick. Dann schien die Hand wieder normal.

"Wie hast du-?", setze er an, doch Radha schüttelte den Kopf.

"Das warst du, Kilian. Du hast meine Hand geheilt. Vielen Dank."

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