(Kein) Weg in die Realität

937 27 3
                                    

Charlie atmete tief durch, ihr erster Tag in der neuen Einrichtung. Eine Mutterschaftsvertretung, der Kindergarten davon unabhängig dennoch vollkommen unterbesetzt. Sie liebte die Abwechslung, liebte es immer wieder neue Einrichtungen kennenzulernen, sie in Engpässen als Springer zu unterstützen. Längere Phasen, wie die Überbrückung von Mutterschutz und Elternzeit, wie in dieser integrativen Einrichtung, waren da keine Seltenheit. Und in Zeiten des Fachkräftemangels waren Springer, vor allem pädagogische Fachkräfte, die sich auf ständige Befristungen einließen, beinahe unverzichtbar und eine kleine Rarität.

Schmunzelnd straffte sie die Schultern und betrat den bunten kleinen Flur, erblickte sogleich, wie die ersten Kinder in ihre Hausschuhe schlüpften und sie mit großen, müden Augen ansahen. Augenscheinlich war es auch ihnen mit kurz nach 7 Uhr noch viel zu früh. „Frau Beyer, guten Morgen. Schön, dass Sie da sind", ertönte die gut gelaunte Stimme der Kitaleitung hinter ihr. Eine nette, herzliche Dame Mitte 50. „Guten Morgen", erwiderte Charlie lächelnd. „Bitte nennen Sie mich Charlie". „Gitte", grinste die blonde, etwas rundlichere Dame und streckte ihr ihre Hand entgegen, welche Charlie sogleich freundlich entgegennahm. „Sie unterstützen die Wichtel-Gruppe. Ich glaube das passt wunderbar.", fuhr sie erklärend fort und deutete auf eine Tür hinter ihr. „Filip, ziehst du bitte deine Hausschuhe an", drang eine angenehm ruhige Stimme an Charlies Ohr, dicht gefolgt von einem leisen wimmern: „Nein, ich will nicht". Interessiert wandte sie sich um, vor ihr eine Dame, vermutlich Anfang 60, an ihrem Bein hängend ein kleiner, eher schmächtiger blonder Junge mit einer dunkelgrauen Brille auf der Nase. „Filip", mahnte die gut gekleidete Frau und versuchte den Jungen von ihrem Bein zu lösen. „Ach", lachte Gitte zaghaft und deutete auf den jungen Mann. „Das ist Filip. Einer Ihrer künftigen Zöglinge. Der Abschied von seiner Bezugserzieherin war schwer für ihn.", bemerkte sie leise, was Charlie sanft lächeln ließ: „Hallo Filip", ergriff sie das Wort und begab sich auf Augenhöhe mit dem zierlichen Jungen, welcher sich nun akribisch hinter seiner, vermutlich Großmutter, versteckte. Die ältere Dame lächelte: „Entschuldigen Sie, er ist etwas schüchtern Fremden gegenüber". „Weißt du, Filip", fuhr Charlie schulterzuckend fort. „Ich bin ganz neu hier, ich kenne mich noch gar nicht aus. Vielleicht kannst du mir helfen und mir alles zeigen. Du bist doch sicher schon vier." Skeptisch hob Filip eine Augenbraue, während er hinter dem Bein seiner Oma hervorlunzte: „Fünf", korrigierte er leise, was Charlie begeistert nicken ließ. „Was? Schon fünf? Dann kannst du mir sicher alles zeigen. Machst du das?" Filip zögerte, knabberte nervös auf seiner Lippe herum, schien mit sich zu hadern, bis er knapp nickte, nach seinen grau melierten Hausschuhen griff, in die er nun hastig hineinschlüpfte und vorauseilte.

„Hey, ich bin Bea", stellte sich die junge kurzhaarige Erzieherin vor, als Charlie neben ihr zum Stehen kam. „Charlie", erwiderte sie lächelnd und sah sich suchend nach Filip um. „Mein Reiseführer hat mich gnadenlos hängenlassen", schüttelte sie lachend den Kopf, was auch die junge Frau neben ihr leise lachen ließ: „Du warst wohl zu langsam". „...und zu uninteressant", nickte Charlie und hob amüsiert die Schultern. „Gut, dann mache ich wohl weiter", erklärte Bea schmunzelnd und deutete auf den Gruppenraum. „Komm ich zeige dir alles".

„Wer bist du?", ertönte nur wenige Augenblicke später eine neugierige Kinderstimme neben ihr, welche sie einem kleinen braunhaarigen Mädchen zuordnen konnte. „Bist du die neue Moni?", grinste sie breit. Charlie lachte: „Sozusagen, aber ich heiße Charlie". Nachdenklich sah die Vierjährige sie an, hob skeptisch eine Augenbraue: „Charlie ist ein Jungenname...du bist kein Junge", stellte sie vollkommen selbstverständlich fest, was Charlie nicken ließ. „Stimmt. Charlie ist auch nur ein Spitzname. Eigentlich heiße ich Charlotte", erklärte sie. „Ich heiße Mia". „Freut mich dich kennen zu lernen, Mia", erwiderte Charlie amüsiert. Das konnte ja heiter werden.


Frisch geduscht und vollkommen erschöpft ließ sich Charlie auf ihr bunt gemustertes Sofa fallen. Die Kinder hatten sie gefordert, sie ausgefragt, sie belagert, während sie versucht hatte Beas Erklärungen zu Regeln und Ablauf der Gruppe zu folgen. Es würde sicher noch einige Tage dauern, bis sie sich eingewöhnt hatte, sich in den neuen Strukturen der Kita zurechtfand. Sie schmunzelte. Bea, ihre Kollegin, war ungefähr ihr Alter. Eine angenehme herzliche humorvolle junge Frau, mit der sie sicher viel Spaß bei der Arbeit haben würde. Die Kinder durchweg angenehm, aufgeweckt, neugierig und frech. Sie freute sich auf ihre Zeit dort. Gezielt griff sie nach der Fernbedienung ihres Smart-TVs, wählte ihre Serie an und ließ sich in das weiche Kissen hinter ihr sinken.

DarkSide - Femme FataleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt