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Die ganze Nacht habe ich am Strand verbracht.

Ich habe es nicht übers Herz gebracht, zurückzugehen. Ich hatte Angst, Elle könnte da sein, dabei hat sie betont, dass sie mich nie wieder sehen wolle.

Ich will sie auch nicht sehen. Ich will nicht sehen, wie ich sie zerstört habe; wie das lebensfrohe Kind in ihr rücksichtslos aus ihrem Herzen gerissen wurde.

Von mir.

Sie hat Recht, ich hätte mich nie auf diese Reise einlassen sollen. Ich hätte sie nie besuchen dürfen.

Vier Jahre haben wir uns nicht gesehen.

Wir haben uns auch auseinandergelebt.

Wir sind nicht mehr die Kinder, die wir waren, als sie gegangen ist – mit denselben Interessen, denselben Überzeugungen, denselben Regeln...

Es hätte mir bewusst sein müssen, dass wir nicht mehr miteinander funktionieren, nachdem wir jeder irgendwie unseren eigenen Weg gegangen sind.

Aber ich war naiv, und ich habe gehofft, dass es anders sein würde.

Ich wusste, dass ich Elle nicht einmal schreiben brauchte, denn sie hätte sich nicht gemeldet.

Stattdessen habe ich die Nacht damit überbrückt, Louis immer wieder anzurufen und zu schreiben, in der Hoffnung, er würde mir ein Zeichen geben, aber selbst er ignorierte mich.

Zu Recht. Ich habe ihn verletzt. Ich habe ihn enttäuscht. Ich habe ihn scheiße behandelt.

Er ist der letzte, der es verdient, so behandelt zu werden. Die letzten Wochen musste er so viel durchmachen, und jetzt habe ich ihm wieder wehgetan.

Wir waren doch glücklich, wieso muss ich das kaputt machen?

Er wollte mir nur helfen, er wollte für mich da sein, weil ich gerade jetzt jemanden brauche, der für mich da ist, mich liebt und mir sagt, dass alles gut wird. Aber anstatt seine Hilfe anzunehmen, habe ich ihn verletzt, und jetzt weiß ich nicht, ob ich ihn jemals wiedersehe, bevor ich nachher meine Koffer packe, um abzureisen.

Als die ersten Gäste den Strand in Beschlag nehmen, humpele ich den ganzen Weg nachhause. Jeder Schritt ist eine reinste Qual und mein rechter Schuh ist auch schon mit Blut vollgesogen.

Aber ich beiße die Zähne zusammen und laufe weiter, schließlich will sie mich so schnell es geht aus dem Haus haben.

Als ich die Straße erreiche, macht sich ein beklommenes Gefühl in mir breit, und ich überlege, ob ich wirklich den Schritt wage, und an der Tür klingel.

Was ist, wenn sie aufmacht? Ich wüsste nicht, was ich sagen soll.

Ich suche meinen ganzen Mut zusammen und klingel.

Erst denke ich, dass keiner aufmacht, bis dann plötzlich Daphne vor mir steht und mich überrascht ansieht.

»Harry? Wo kommst du denn her?«

Weiß sie es denn nicht? Oder tut sie nur so, damit ich mich nicht ganz so scheiße fühle?

Ich bringe keinen Satz zustande, sondern schluchze, und die Tränen rennen mir wieder über die Wangen.

»Harry«, sagt sie sanft und geht auf mich zu, »komm bitte rein.«

Ich schaue auf meinen Fuß, sie folgt meinem Blick und zieht scharf die Luft an, als sie sieht, wie dunkelrot meine Converse sind. 

»Oh Gott, RODDY!«

Sofort kommt Roderick angerannt, und hilft dabei mich zu stützten und ins Esszimmer zu tragen. So viel Aufwand.

»Wir müssen dich zum Arzt bringen, Harry«, sagt Daphne und geht neben mir in die Hocke, während Roderick mir langsam meinen Schuh auszieht.

»Nein«, schluchze ich, »bitte, kein Arzt. Es ist nicht so schlimm. Ich...ich...«

»Hey, alles gut«, sagt sie, steht auf und schließt mich in ihre Arme. »Wir wissen, was passiert ist.«

»Und dann verurteilt ihr mich nicht?«, frage ich.

Ich zische vor Schmerz, als Roderick das durchgesogene Toilettenpapier von meinem Fuß nimmt und es in einen Müllbeutel schmeißt, der direkt neben dem offenen Erste Hilfe Kasten liegt.

»Nein«, antwortet Daphne und streicht mir beruhigend über die Haare, »wir wussten schon vorher, dass Louis und du euch nähersteht. Aber ich kenne dich, Harry, und ich weiß, dass du Elle nicht verletzten wolltest.«

Ich schluchze. »Aber sie weiß es nicht. Und Louis auch nicht. Ich-ich habe Louis genauso verletzt. AH GOTT!«

Roderick verteilt mit einem Wattebausch Desinfektionsmittel um die Wunde herum, worauf ich mich verkrampfe.

»Ich habe beide verloren«, schluchze ich, »Elle hat gesagt, sie will mich nie wieder sehen.«

Daphne nimmt meine Hand und geht wieder in die Hocke, um mich anzusehen. »Weißt du, Harry, deine Mum und ich sind seit über vierzig Jahren beste Freundinnen. Was meinst du, wie oft wir uns gestritten haben?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Und was meinst du, wie oft sie zu mir oder ich zu ihr gesagt habe, dass wir einander nie wieder sehen wollen.«

»Oft?«

Sie lächelt. »Unglaublich oft. Schau mal, du darfst nur den Mut nicht verlieren. Natürlich war es eine unglückliche Situation, aber ich bin mir sicher, dass sie es verstehen wird, wenn du es ihr erklärst.«

Ich seufze. »Aber wie soll ich mit ihr reden? Sie blockt ab.«

»Sie ist oben in ihrem Zimmer, du kannst nicht mehr tun als versuchen, das Gespräch mit ihr zu suchen.«

Plötzlich kommt mir der Gedanke und ich ziehe scharf die Luft an. »Natürlich«, hauche ich, »Regel Nummer 2!«

Daphne sieht mich irritiert an.

Roderick hat gerade den Druckverband angelegt, als ich aufspringe und unter Schmerzen die Treppe hochrenne. 

My Best Friend's Brother [l.s.]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt