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Ich brauche länger als eine halbe Stunde, bis ich vor seiner Wohnungstür stehe, mit zitternden Händen und weichen Knien.

Der Schmerz in meinem Fuß ist inzwischen vergessen, wurde von Angst abgelöst – Angst, Louis vor die Augen zu treten.

Vorsichtig klingele ich an seiner Tür, und ich will gerade einen Rückzieher machen und verschwinden, bis er plötzlich vor mir steht.

Seine Augen sind blutunterlaufen, als hätte er die ganze Nacht durchgeweint; seine Haare fettig und zerzaust, nicht mehr so schön soft und warm wirkend wie sonst. Und er trägt immer noch die Klamotten von gestern.

»Louis...«, beginne ich und hüpfe einen Schritt auf ihn zu, »hey.«

»Was willst du?«

Seine ernste und tiefe Stimme verunsichert mich.

»Mit dir reden«, antworte ich.

Sein Blick wandert meinen ganzen Körper entlang und bleibt an seinem Fuß hängen. »Was ist mit deinem Fuß?«

»Das äh...ist eine etwas längere Geschichte. Darf ich reinkommen?«

Er nickt und tritt einen Schritt zur Seite, um mich in seine Wohnung zu lassen.

Er legt seinen Arm unter meinen, um mich zu stützen und zur Couch zu bringen. »Bist du den ganzen Weg allein hergekommen?«

Ich nicke. »Ich musste dich unbedingt sehen.«

Er presst seine Lippen zusammen, sieht mich einen Moment lang einfach nur an, bevor er mir den Rücken zukehrt und aus dem Fenster sieht.

»Was ich gesagt habe war dir gegenüber nicht fair«, beginne ich, »ich habe überreagiert. Ich-ich wollte dich nicht so anfahren.«

»Hast du aber.«

»Weil ich verzweifelt war! Verdammt ich habe meine beste Freundin verloren, ich meine, ich wusste, dass es so weit kommen würde, aber habe es immer wieder aufgeschoben, einfach weil ich Angst davor hatte. Dann ist es passiert und...und ich habe überreagiert.«

»Du hast gesagt es ist meine Schuld gewesen«, sagt er.

Ich nicke. »Ja, ja ich habe gesagt, dass es deine Schuld ist. Aber Louis, das ist es nicht, und das weiß ich. Nichts von dem, was passiert ist, ist deine schuld.«

Er schweigt. Ich verliere die Hoffnung, Stück für Stück.

Aber ich kann jetzt nicht aufgeben. Ich darf nicht aufgeben, auch, wenn der Schmerz unerträglich ist – sowohl der in meinem Herzen als auch der in meinem Fuß, der mir meine letzte Energie Stück für Stück raubt.

»Es ist nicht deine Schuld«, hauche ich, den Tränen nahe, »ich habe ja gesagt zu unserer Beziehung. Als du mich gefragt hast, habe ich ja gesagt.«

Er schnaubt. »Du bereust es also?«

Schockiert reiße ich die Augen auf. Ich springe auf und gehe ich auf ihn zu. »Nein, oh Gott, nein, das tue ich nicht. Louis, ich bereue keine einzige Sekunde von dem, was wir hatten. Ganz im Gegenteil. Ich wünsche es mir zurück, alles. Ich wünsche mir uns zurück. Ich habe dir etwas vorgeworfen, was gar nicht stimmt. Ich habe dich schlecht behandelt, das sehe ich ein. Du verdienst es nicht so behandelt zu werden, wie ich es getan habe, und du glaubst gar nicht wie sehr ich mich dafür hasse. Du verdienst das nicht. Du verdienst alles Glück, alle Liebe dieser Welt. Und es tut mir so unglaublich leid, dass ich dir diese Liebe nicht geben konnte, als wir beide sie am meisten gebraucht haben. Es tut mir leid.«

Er dreht sich zu mir um, Tränen schimmern in seinen Augen.

»Es tut mir leid«, hauche ich unter Schluchzen, »ich liebe dich, Louis. Ich brauche dich. Ich kann ohne dich nicht leben. Du machst mich zum glücklisten Menschen der Welt.«

Ich nehme seine Hand und halte sie fest, während die Tränen eine Wangen herunterströmen.

»Du bist alles, was ich brauche, Louis. Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Du verdienst das nicht. Du verdienst Liebe, so viel Liebe und ich hoffe, du kannst mir verzeihen und mich zeigen lassen, wie viel du mir bedeutest.«

Er presst seine Lippen wieder so zusammen, als würde er etwas sagen wollen, sich aber nicht trauen, während auch bei ihm vereinzelt Tränen die Wangen herunterlaufen und sich in seinen Lippen verfangen.

»Es tut mir leid, Harry«, sagt er leise.

Nein.

Oh, nein.

Ich ahne Böses. Ich ahne wirklich Böses.

Das kann er nicht machen. Das kann er mir jetzt nicht antuen. Er kann mich jetzt nicht einfach aus seinem Leben verbannen – ich brauche ihn, ohne ihn schaffe ich das nicht.

»Louis bitte«, schluchze ich, »tu mir das nicht an, bitte.«

»Harry, lass mich ausreden!«

Ich sehe ihn erwartungsvoll an, meine Fingernägel bohren sich in seinen Handrücken.

»Es war nicht fair, wie ich dich unter Druck gesetzt habe«, sagt er mit einem schwachen Lächeln, »du gibst mir so viel Liebe, wie sie mir noch nie jemand gegeben hat. Du bist für mich da, wenn andere es nicht sind, und du findest immer die richtigen Worte...ich brauche dich, genauso wie du mich brauchst. Und ich hätte für dich da sein müssen, anstatt dich zu verurteilen. Es tut mir leid.«

»Heißt das...«

»Ja«, sagt er und legt eine Hand auf meine Wange, »ich liebe dich auch, Harry, natürlich tue ich das und das werde ich auch weiterhin. Selbst, wenn du einen Mord begehen würdest, würde ich dich weiter lieben. Ich verzeihe dir, Harry, und das hätte ich auch getan, ohne, dass du durch ganz Gold Coast humpelst.«

Ein amüsiertes Lächeln schleicht sich über meine Lächeln. Die Schmetterlinge in meinem Bauch verzaubern den Schmerz in pure Erleichterung.

»Danke«, hauche ich schniefend und falle ihm um den Hals, »tausend Dank.«

Er legt seine Arme um mich, drückt mich fest an sich und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren. Ich spüre seine Wärme, atme seinen vertrauten Duft ein und fühle mich zuhause.

Zum ersten Mal nach dem Vorfall habe ich das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.

Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass alles gut ist, obwohl ich weiß, dass die größte Hürde noch überwunden werden muss.

Aber zumindest muss ich da nicht mehr allein durch, sondern habe ihn an meiner Seite.

My Best Friend's Brother [l.s.]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt