22. Kapitel

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     Auch am nächsten Tag dachte ich an die Szene am Steg und spürte tief in mir drin, dass ich ihn küssen hatte wollen. Beziehungsweise hatte ich gewollt, dass er mich küsste. Wieso? Wieso wollte ich das? Es war schlecht, nicht wahr? Es war schlecht.
    Denn ich konnte Vaughn nicht ganz vertrauen, weil mein Vertrauen in ihn noch nicht ganz da war. Nicht wahr? Nicht wahr? Ich wusste es nicht mehr. Dejan bemerkte meine innere Unruhe. Es war schließlich nicht zu übersehen.
    »Was ist los, Sita? Hat Vaughn etwas getan?«
    Beinahe hätte ich gelacht. Jeder fragte immer nach Vaughn. Als wäre Vaughn die einzige Person, die mir etwas tun konnte. Gestern war er die Person gewesen, die mir von allen am wenigstens getan hatte und mich stattdessen davor bewahrt hatte in der Dunkelheit zu versinken. Also nein...
     »Nein. Wir... er... ich habe einige Dinge über ihn verstanden, die mich hart getroffen haben, weil er sie früher nie zur Sprache gebracht hat und dann haben wir uns umarmt, weil ich ihn nicht so sehen konnte und dann... dann haben wir uns leicht gelöst und es war... wie früher, verstehst du? Es kam mir vor wie früher und... ich wollte, dass er mich küsst.«

     Dejan blinzelte. Ich erwartete, dass er mir sagen würde, dass das dumm war oder dass er sagen würde, dass ich vorsichtig sein soll. Vermutlich aber hatte er daraus gelernt.
    »Das Herz will, was es will. Ich denke, dass du ihn immer wolltest. Tief in dir drin. Du hast ihn jeden Tag vermisst und jetzt, wo er dir die Wahrheit gesagt hat, kannst du ihn nicht mehr als Arschloch sehen, sondern nur noch als den Vaughn, der er ist.«
     Ich nickte. »Ja, das kommt hin.«

     »Und das ist nicht schlimm, Sita. Wenn du ihn küssen willst, ist das in Ordnung. Die Frage ist nur, ob du bereit bist die Schritte bis zum Ende zu gehen oder ob du erstmal sehen willst, wo es hinführt. Dafür solltest du aber mit ihm darüber reden.«
     Es war erstaunlich wie schnell Dejan seine Meinung geändert hatte. Ganz verstand ich nicht, woher das plötzlich kam. Er war immer ein Verfechter davon gewesen, dass Vaughn schlecht für mich war. Jetzt gerade schien er fast das Gegenteil zu sagen.
     »Und du bist nicht dagegen?«
     »Würde es etwas ändern, wenn ich es wäre? Zugegeben, ich habe ihn gestern gerufen, weil ich wusste, dass er derjenige ist, der zu dir durchdringen kann. Zumindest am meisten an dich rankommt. Und ich habe gesehen, wie er mit dir umgegangen ist und wie er dich angesehen hat, Sita. Dieser Mann liebt dich mit jeder Faser seines Seins. Er liebt dich und daran führt kein Weg vorbei. Und ja, ich habe meine Bedenken aber es ist dein Leben, Sita und ich habe kein Recht darüber zu bestimmen. Ich kann dir nur mit Rat und Tat zur Seite stehen. Mehr nicht.«

     Einen Moment lang musterte ich Dejan überrascht, dann aber lächelte ich. Es war nicht selbstverständlich, dass er so war. Eine Weile waren beide sehr feindselig gewesen. Und doch schien er dies jetzt überwunden zu haben.
    »Danke, Dec. Für alles.«
     Dejan nickte und schenkte mir ein Lächeln. »Immer doch. Du bist schließlich eine gute Freundin von mir und ich bin ja nicht blind. Der Typ löst bei dir etwas aus, das kein anderer auslösen kann. Nur er.«

     Ich wollte widersprechen, doch er hatte ja recht. Vaughn löste etwas bei mir aus, das nur er auslösen konnte. Nur er. Niemand sonst. Und das war nicht gelogen. Vaughn fand manchmal einen Schalter, den andere nicht fanden. Und ich beschwerte mich nicht darüber. Hatte mich nie beschwert.
     Bis er mir so wehgetan hatte. Doch auch jetzt noch fand er Schalter, die andere nicht fanden. Nach all der Zeit kannten wir uns. Kannten sich unsere Seelen. Es war erstaunlich. Etwas, das ich nie erwartet hätte. Nie hätte ich gedacht, dass dies so sein würde. Ich hatte gedacht, dass Vaughn ein Fremder für mich sein würde, doch das war er nicht. Vaughn war noch immer derjenige, der meine Seele am besten kannte.
     Und er wusste, was er zu tun hatte, um mich vor der Dunkelheit zu retten. Er wusste es. Niemand sonst. Dejan hatte geahnt, dass nur Vaughn zu mir durchdringen konnte und ich wusste nicht, wie ich das finden sollte. Dec... Dec wusste viel, wenn es darum ging. Er konnte tief in mich hineinsehen.
     Wie Vaughn.

Das Rätsel des VertrauensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt