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Wincent

Als ich am nächsten Morgen wach wurde, hatte ich noch keine Antwort von Anna. Wahrscheinlich schlief sie schon, als ich die Nachricht endlich abgeschickt hatte. Ganze fünf Anläufe brauchte ich, bevor ich zufrieden war. Jedes Mal von vorne anfangen, ging mir irgendwann ziemlich auf den Zeiger, aber ich tat es für Anna.
Ich war viel zu früh wach und deshalb beschloss ich, erst einmal ins Gym zu gehen. Also zog ich schnell meine Sportsachen an, nahm Handy, AirPods, Zimmerkarte und Autoschlüssel und ging aus dem Raum. Im Auto recherchierte ich, wo hier in der Nähe schon etwas offen war und fuhr los. Die Aussicht auf Sport weckte mich, aber vorher brauchte ich ganz dringend Kaffee. Also hielt ich noch an einem Bäcker an und holte mir einen Becher. Der Inhalt überlebte allerdings nur knapp bis zum Gym und beim Betreten des Gebäudes warf ich den leeren Becher weg.
Ich tauschte schnell meine Schuhe, packte die AirPods rein, startete meine Sportplaylist und begann das Workout. Ein Vorteil hatte Sport bei mir zum Glück noch immer: Ich konnte so richtig abschalten. Keine störenden Gedanken, keine Arbeit, kein Gefühl. Also außer der Anstrengung und dem Schweiß, aber das sollte ja so sein. Zwei Stunden später war ich ziemlich fertig, aber durchaus zufrieden. Mein Bein machte zum Glück auch wieder alles mit, nachdem ich mich im letzten Winterurlaub beim Rodeln mit einer Mauer angelegt hatte. In einigen Wochen begann die Reha und bis dahin wollte ich einfach weiter regelmäßig ins Gym gehen. Es half mir ja nicht nur beim Abschalten. Ich verließ das Gym wieder, nahm die Kopfhörer raus und setzte mich ins Auto. Wieder im Hotel ging ich fix duschen und zog mich dann für den heutigen Drehtag an. Erster Tag wieder am Set und ich freute mich sehr auf die Sendung. Es machte einfach großen Spaß und die Geschichten waren manchmal echt absurd, aber immer spannend.
Ich frühstückte noch kurz im Hotel und fuhr dann zum Studio. Hier wurde schon fleißig gearbeitet. Ich nahm noch kurz eine Instagram-Story auf und erzählte meinen Fans, dass ich in Hamburg bei den Dreharbeiten von 'Kaum zu glauben' war.

Annalena

Ich hab Schokoeis mitgebracht. Ich brauch nur einen großen Löffel", begrüßte mich Lara, als ich die Tür öffnete.
„Ab wann hilft denn Schokoeis?", fragte ich und schloss die Tür wieder.
Lara war bereits in der Küche, vermutete ich, und ging dorthin.
„Wieso? Hast du etwas auch Liebeskummer?", hakte sie direkt nach. „Was ist passiert?"
„Nichts", wank ich ab. „Du wolltest dein Problem erzählen."
„Nein. Jetzt bist erst du dran. Was ist los?"
„Keine Ahnung. Er meinte gestern noch, dass er beruflich nach Hamburg muss und sich abends wieder meldet, aber es kam einfach keine Nachricht."
Laras Handy gab einen Nachrichtenton von sich. „Sorry", murmelte sie. „Wincent hat eine neue Story hochgeladen. Das muss ich mir kurz anschauen."
Toll, so schnell war ich abgemeldet.
„Moin Leute", hörte ich jemanden sagen.
Moment! Das war doch Wincents Stimme. Hieß das...? Mit angehaltenem Atem hörte ich zu und meine Vermutung bestätigte sich immer mehr.
„Anna? Alles gut bei dir?", fragte Lara besorgt. „Du wirkst irgendwie ziemlich blass."
„Mir geht's gut."
„Sicher?"Ich nickte nur. Diese Erkenntnis musste ich später ganz in Ruhe für mich verarbeiten. Ausgerechnet Laras Idol. Wie sollte ich ihr das denn erklären?
„Warte mal... Sagtest du nicht, dass dein Wincent wegen seinem Job in Hamburg ist?" Offenbar hatte Lara mir doch zugehört.
„Ja."
„Aber nicht..." Lara brach ab. „Anna... Oh mein Gott. Warte, du hast doch seine Nummer. Kann ich schauen, was er für ein Profilbild hat?"
Ich entsperrte mein Handy, was schon den ganzen Morgen über schwieg, zumindest von Wincents Seite aus, und schob es über den Tisch. Ich hörte, wie Lara es aufhob und dann war Stille. Lange. Man hätte eine Stecknadel fallen gehört.
„Lara? Bist du noch da?", fragte ich irgendwann.
„Ja." Sie klang ziemlich atemlos. „Sein Profilbild ist ein Foto von ihm und Shayenne."
„Und?"
„Das ist seine kleine Schwester."
„Woher weißt du das?"
„Weil... Anna, du datest ernsthaft Wincent Weiss? Weißt du, wie viele Frauen dich darum beneiden würden?"
Okay, sie hatte es ganz alleine herausgefunden. Und sie war noch nicht in Ohnmacht gefallen. Glück gehabt.
„Ich will es gar nicht wissen", gab ich zu.
In diesem Moment meldete sich mein Handy mit einem Anruf.
„Dein Vater", sagte Lara überrascht und drückte mir das Telefon in die Hand.
„Papa?", fragte ich.

Wincent

„Tschüss, Wincent. Wir sehen uns dann morgen", verabschiedete sich Kai von mir.
Obwohl der Tag richtig cool war und ich es genoss, wieder hier sein zu dürfen, war ich ganz froh über den Feierabend.
„Ach und denk dran, wir drehen die Woche noch mit Überlänge. Also gut ausschlafen."
„Mach ich. Danke, Kai."
„Nicht dafür. Ich freu mich, dass du wieder dabei bist."
„Ich freue mich auch, dass ich wieder hier sein darf", erwiderte ich ehrlich. „Und ich komme jederzeit wieder."
„Vermutlich nur so lange, bis jemand dich in einen Anzug quetscht", neckte mich Kai.
„Korrekt. Wobei deine Anzüge echt gut aussehen."
„Dir stehen Anzüge auch. Du trägst sie nur so selten."
„Ich bin ja auch Künstler. Du musst als Moderator immer so eine gewisse Seriosität und Authentizität ausstrahlen, ich nicht. Mir sind Anzüge ein wenig zu steif", erklärte ich ihm.
„Wir kennen dich alle mit Jeans und T-Shirt. Immer in schwarz oder weiß. Und genau das macht dich ja aus. Also ein bisschen zumindest."
„So wie dich die Anzüge", ergänzte ich.
„Kann man so sehen, ja."
„Vielleicht sollten wir mal einen Tag lang tauschen", schlug ich grinsend vor.
„Sehr gerne. Ich komme mal auf das Angebot zurück. Aber erst nach der Sendung und bitte an einem freien Tag."
„Abgemacht. Ich will ja nicht, dass du deinen Job riskierst, weil du da plötzlich in Jeans und T-Shirt auftauchst."
„So, ich muss los. Wir sehen uns ja morgen", meinte Kai und wank mir nochmal zu, bevor er im Studio verschwand.
Ich warf einen Blick auf mein Handy, aber außer diversen Nachrichten auf Instagram war während der Aufzeichnung nichts gekommen. Ich ging auf den Chat mit Anna, um zu sehen, ob sie heute schon online war. In genau diesem Moment tauchte eine neue Nachricht von ihr auf. Ich packte mir schnell die AirPods rein und spielte sie ab.
„Guten Morgen. Ich wollte dir nur sagen, dass ich unterwegs zu meinem Vater bin. Er hat sich auf Arbeit am Bein verletzt und jetzt muss ich nach Hamburg. Naja, ich sollte aufhören, sonst komme ich nie an. Der Berliner Hauptbahnhof ist die reinste Katastrophe mit den ganzen Ansagen."
Kein Kommentar zu meiner letzten Nachricht. Komisch. Aber sie war auf dem Weg nach Hamburg. Das hieß, wir waren in wenigen Stunden in der gleichen Stadt. Auch wenn sie wegen ihrem Vater hier war, ich musste sie sehen.
Ich scrollte kurz im Chat hoch und sah, warum sie auf meine letzte Nachricht nicht geantwortet hatte. Mein Handy war heute Morgen ganz aus, weil der Akku in der Nacht auf null sank. Daher wurde die Nachricht nicht gesendet und ich Depp hatte die Benachrichtigung nicht gesehen.
„Hey Anna, sorry, dass ich mich erst jetzt melde. War bis eben noch beschäftigt. Du bekommst gleich noch die Nachricht von letzter Nacht. Mein Handy hatte keinen Strom mehr und deshalb ging sie nicht raus. Sorry, dass ich das erst jetzt gecheckt habe. Ich hoffe, deinem Vater geht es soweit gut. Kannst dich ja melden, wenn du irgendwie Hilfe oder einfach mal Ablenkung brauchst. Mein Terminplan ist zwar sehr voll, aber das bekomme ich schon irgendwie hin."
Diesmal achtete ich darauf, dass die Nachricht rausging und lud dann die von letzter Nacht nochmal. Ich ging zu meinem Auto, fuhr aber nicht los, sondern blieb auf dem Chat mit Anna hängen. Da, sie war online. Und sie hörte die Nachricht ab. Ich hing mit den Augen auf dem Display und wartete. Wie viel hatte ich denn erzählt? So lang war die Audio doch gar nicht. Gut, ich sprach sehr schnell, das war kein Maß.
Bei den Worten ‚Anna nimmt eine Sprachnachricht' auf, hielt ich unwillkürlich den Atem an.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt