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Annalena

„Anna! Komm jetzt!" Laras Stimme wurde immer durchdringender.
Ich nahm meine Tasche, hängte sie um und ging ins Wohnzimmer.
„Na endlich!", kommentierte Lara und zog mich zur Tür.
Ich reichte ihr meinen Schlüssel, sie schloss die Wohnung ab und gab ihn mir zurück. Schnell verstaute ich ihn in meiner Tasche und dann führte Lara mich die Treppen nach unten.
„Und? Bist du nervös?", fragte sie mich, als sie mir ins Auto half.
„Wieso sollte ich?"
„Naja, wir gehen auf ein Konzert. Von Wincent."
„Und? Da waren wir doch beide schon. Aber ich freue mich, dass wir diesmal zusammen hingehen", erwiderte ich.
„Meinst du, wir treffen Stefan und Mats?", fragte sie beim Losfahren.
„Bestimmt. Die arbeiten doch bei ihm." So langsam hatte mich Lara absolut gebrieft, was Wincents Team anging. Man konnte sagen, ich war jetzt ein absoluter Fan. Nur mit dem Unterschied, dass ich außer Wincent, Stefan und Mats niemanden erkennen würde.
„Ja. Trotzdem trifft man die nicht einfach so", meinte Lara. „Immerhin arbeiten die ja."
„Bist du etwa neidisch?", fragte ich.
„Darauf, dass du ein Glückspilz bist? Niemals."
„Ich und Glück? Ich glaube, du spinnst. Außerdem hätte ich sie gar nicht kennengelernt, wenn du dabei gewesen wärst."
„Ist ja gut. Ich hab es verstanden. Aber so haben wir jetzt wenigstens tolle Shirts und ich hab eine Sprachnachricht von Stefan." Ich hörte die Freude aus ihrer Stimme deutlich raus.
So ganz verstand ich noch nicht, wie sie diese beiden Sachen noch immer so glücklich machen konnten. Immerhin war das Konzert in Berlin schon Wochen her. Heute war Tourabschluss in Frankfurt am Main und Lara hatte mich überredet, mit ihr gemeinsam dort hinzufahren. Sie meinte, es wäre die Entschädigung dafür, dass ich in Berlin alleine gehen musste. Auf meine Aussage, dass wir schon auf so vielen anderen Konzerten dieser Tour waren, sagte sie nichts mehr. Da Lara allerdings meine beste Freundin war, gab ich nach. Zugegebenermaßen liebte ich nämlich die Konzerte von Wincent auch. Ich weiß nicht woran es lag, aber seine Stimme übte eine ungeheure Magie auf mich aus. So viel Gefühl hatte ich noch nie in der Stimme einer Person gehört. Lara ließ im Auto zwar auch immer die Songs von Wincent und Fabian, der bei dieser Tour die Vorband war, laufen, aber die Aufnahmen kamen nicht an das Live-Erlebnis ran. Das alles verriet ich Lara allerdings nicht.

Wincent

Ich saß gut gelaunt im Auto und trat aufs Gaspedal. Tourabschluss. In Frankfurt. Ich freute mich riesig auf den heutigen Abend. Anders als sonst, befiel mich auch keine Melancholie, dass die Tour vorbei war. Also doch, es stimmte mich etwas traurig, denn ich liebte die Hallen. Lichtshow, Pyro, leuchtende Menschenmengen, das volle Programm war einfach geil. Dieses Jahr folgten auf die Album-Tour direkt die ersten zwei Sommershows. Endlich wieder Open Air! Wir mussten einige Special-Effects natürlich aus dem Programm streichen, aber dennoch freute ich mich darauf.
In Gedanken ging ich noch einmal das heutige Konzert durch. Alles noch ein letztes Mal. Intro mit brennenden Gitarren, Feuerjacke, Lichtspiel bei ‚Spring', leuchtende Arena bei ‚Nur ein Herzschlag entfernt' und fliegende Bälle. Ich nahm mir vor, den heutigen Abend nochmal ganz besonders zu genießen. Noch etwas war heute anders. Tourabschluss hieß nämlich auch, dass meine gesamte Crew etwas geplant hatte. Der einzige, der keine Ahnung hatte, war ich. Bisher war es immer recht witzig und ich hoffte sehr, dass sie mich dieses Jahr nicht komplett blamierten.
Ich fuhr auf das Konzertgelände, parkte mein Auto, nahm meinen Rucksack und stieg aus. Mein Team war schon fleißig am Aufbauen. Ich brachte meinen Rucksack in die Garderobe und ging dann los, um alle zu begrüßen.
„Na, Chef. Alles klar?", fragte Mats und zog mich in eine kurze Umarmung.
„Immer."
„Suchst du heute wieder nach Anna?"
Natürlich hatte er das mitbekommen.
„Kommt sie denn?", wollte ich wissen.
„Keine Ahnung. Aber da sie seit Berlin jetzt ziemlich häufig dabei war, gehe ich mal davon aus. Immerhin ist Tourabschluss."
Das wusste ich auch. Keine Ahnung warum, aber so langsam wurmte mich das Ganze. Ich kannte Anna nicht und doch wollte ich sie gerne kennenlernen. Mats hatte mir nach jedem Konzert auf dem Anna war, von ihrer Anwesenheit berichtet. Nur ich sah sie einfach nie. Das konnte doch nicht wahr sein.
„Wince, ich hab einen Tipp für dich", sagte Mats.
„Okay."
„Sie sitzt immer auf den Rängen."
Ausgerechnet. Da konnte ich sie ja nicht finden. Mats hätte mit dieser Info ja mal früher rausrücken können.
„Sag mal, Mats?"
„Ja?"
„Bin ich blind?"
„Ne, Anna", lautete die ernste Antwort.

Annalena

„Wir sind da!" Lara war in der letzten halben Stunde noch aufgedrehter geworden.
„Und wie viel Zeit haben wir noch bis Einlass?", wollte ich wissen.
„Ähm, vier Stunden."
„Wie bitte?! Wie schnell bist du denn gefahren?"
„Nicht schneller als Wincent fahren würde", antwortete Lara.
„Du hast echt einen Schaden und immer noch keinen Rennwagen", war mein einziger Kommentar dazu.
„Wincents Oldtimer schaffen das Tempo bestimmt auch noch. Ich brauch also keinen Rennwagen."
Lara war echt eine Nummer für sich. Obwohl sie Wincent noch nie getroffen hatte, wusste sie mehr über ihn als ich über sie. Und Wincent war immer die Begründung und Aurede für alles. Komischerweise funktionierte das auch noch.
„Was machen wir jetzt mit der ganzen Zeit?", fragte ich meine beste Freundin.
„Wie wäre es mit Kaffee? Und dann könnten wir uns zu den anderen Fans setzen und Memorie spielen. Ich hab es extra eingepackt." Der Stolz, dass sie daran gedacht hatte, war nicht zu überhören.
„Okay."
Wir stiegen aus und Lara führte mich zu einem Café, was ganz in der Nähe lag. Ein bisschen Stärkung tat uns beiden gut. Danach gingen wir zur Konzertlocation zurück und Lara suchte einen Schattenplatz für uns. Sie legte eine Decke hin und wir machten es uns bequem. Kurz darauf kamen zwei andere Mädels dazu. Sie stellten sich als Marie und Hannah vor und wir quatschten eine Weile. Also ich hörte hauptsächlich zu und lernte ganz viele Dinge über Wincent und sein Team.
„Habt ihr Lust auf Memorie?", fragte Lara irgendwann und die Mädels stimmten zu.
Sie mischte die Karten durch und legte sie auf der Decke aus. Jede von uns saß an einer Ecke, sodass wir genug Platz für die Karten hatten.
Lara hatte mir das Memorie zu meimem 27. Geburtstag geschenkt. Wie sie sagte, diente es zur Vorbereitung auf mein erstes Wincent Weiss-Konzert. Auf den Karten waren immer Personen aus seinem Team abgebildet und sie hatte darunter immer in Blindenschrift die Namen schreiben lassen. So konnten wir immer gemeinsam spielen.
Wir hatten echt viel Spaß zusammen und nach diversen Runden Memorie hatten die anderen keine Lust mehr. Angeblich war ich zu gut, obwohl ich blind war. Marie und Hannah fragten mich irgendwann schüchtern nach meiner Blindheit und ich erzählte ein wenig von meiner Krankheit. Lara schlug vor, dass wir ja ein bisschen Blindenschrift üben konnten, denn die war auch nach sieben Jahren Freundschaft noch nicht sehr gut darin. Die anderen beiden stimmten begeistert zu und so lernten sie einige Buchstaben. Natürlich griffen wir dabei wieder auf die Memoriekarten zurück, denn sie waren das einzige, was wir in Blindenschrift hatten.
„Hey, es ist gleich Einlasszeit", meinte Hannah irgendwann.
Also packten wir die Sachen zusammen und Lara brachte sie schnell ins Auto. Es stellte sich heraus, dass die anderen beiden direkt neben uns saßen und so gingen wir gemeinsam zum Eingang.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt