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Wincent

Heute war Heiligabend und ich hatte mich mit Anna geeinigt, dass wir alleine in Berlin feiern. Morgen ging es zu meiner Familie nach Eutin und am zweiten Weihnachtsfeiertag wollten wir ihren Vater in Hamburg besuchen.
Als es an der Tür klingelte war Anna noch im Bad und so ging ich hin und öffnete.
„Mats! Was machst du denn hier?", fragte ich überrascht.
„Ähm, ich glaube, es nennt sich Überraschungsbesuch zu Weihnachten", kam als Antwort. „Hab sogar noch jemanden mitgebracht." Er trat einen Schritt zur Seite.
„Amelie!"
„Überraschung. Frohe Weihnachten!" Sie nahm mich fest in den Arm und ich drückte sie an mich. Amelie war einfach meine beste Freundin.
„Kommt rein."
„Frohe Weihnachten, Wince!" Auch Mats umarmte mich kurz und obwohl ich noch nicht ganz wusste, was die beiden hier machten, freute ich mich.
„Schatz!", rief ich durch die Wohnung, nachdem ich die Tür geschlossen hatte. „Amelie und Mats sind da."
Anna kam gerade aus dem Badezimmer und ich führte sie ins Wohnzimmer. Dort saßen schon unsere beiden Gäste, wobei Anna nicht ganz so überrascht wirkte. Hatte ich irgendwas verpasst? Verheimlichten die mir etwas?
„Was wollt ihr trinken?", fragte ich in die Runde und ging dann in die Küche, um die Getränke zu holen.
So ganz wurde ich das Gefühl nicht los, dass hinter meinem Rücken irgendwas lief. Aber als ich ins Wohnzimmer zurück kam, waren die drei voll in ein Gespräch vertieft. Der Anblick von meiner Freundin, die zusammen mit meiner besten Freundin und meinem Kumpel und Fotograf zusammen lachte und erzählte, wärmte mein Herz.
Ich setzte mich einfach dazu und wurde schnell ins Gespräch einbezogen. Hauptsächlich waren es lustige Anekdoten von vergangenen Weihnachtsfesten. Natürlich kam Amelie auch mit einer Story über mich um die Ecke, für die ich sie am liebsten geschlagen hätte. Ja, Anna kannte meine leicht verrückte Seite, aber sie musste ja nicht unbedingt alle meine Sünden kennen. Gut, Unterhaltung gab es dann genug, wenn auch leider auf meine Kosten.
„Schatz, kannst du mir mal in der Küche helfen?", fragte Anna irgendwann und ich stand mit ihr auf.
„Klar."
„Amelie und Mats, wir lassen euch mal kurz alleine", meinte Anna an unsere Gäste gewandt.
„Lasst euch Zeit, aber seid leise", lachte Mats und ich boxte ihm gegen die Schulter.
Dann folgte ich meiner Freundin in die Küche. „Was machen wir jetzt?"
„Du räumst am besten den Geschirrspüler aus und deckst dann den Tisch. Und ich kümmere mich in der Zwischenzeit um das Abendessen."
„Alles klar, Chefin", erwiderte ich und machte mich an die Arbeit. Wenigstens das bekam ich hin.
Nach einigen Minuten rief Amelie nach Anna und ich blieb alleine in der Küche zurück. Obwohl ich Hausarbeit nicht mochte, zwang ich mich dazu, es fertig zu machen.
Als ich soweit war und von den drei anderen kein Mucks mehr kam, ging ich ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Wie viele Überraschungen gab es heute denn noch? Waren Amelie und Mats deshalb hier?
Da saß Anna. An einem Klavier. Die Hände auf den Tasten. Ich war einfach nur überwältigt. Damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Ich konnte ja ein bisschen auf dem Klavier klimpern, aber blind ein Instrument lernen? Diese Frau war doch absolut verrückt.
Amelie kam zu mir, führte mich zum Sofa und drückte mich darauf. Mein Gehirn funktionierte gerade nicht so richtig, denn ich starrte noch immer meine Freundin an. War das ihr Ernst? Sie wollte Klavier spielen? Für mich?
Annas Finger sanken und die ersten Töne schwebten durch den Raum. Wie gebannt schaute ich sie an und als ich den Song erkannte, setzte mein Verstand endgültig aus. Das tat sie gerade nicht wirklich, oder?
„Fühlst du immer noch das Gleiche, wenn ich dir meine Zweifel zeige?" Der sanfte Klang ihrer Stimme brachte mich an den Rand meiner Selbstbeherrschung.
Obwohl ich jede Note und jedes Wort kannte, hörte ich den Song zum ersten Mal. So viel Gefühl, wie Anna in die mir sehr bekannten Zeilen legte, hatte ich nicht einmal beim Einsingen fürs Album gehabt. Es war zwar mein Song, aber gerade glaubte ich das nicht mehr so ganz.
Ich versuchte erst gar nicht, die Tränen zu unterdrücken, die in meinen Augen standen. Anna würde sie eh nicht sehen und Amelie und Mats konnten es ruhig mitbekommen. Immerhin war das hier eine Ausnahmesituation. Meine Freundin, nein, meine blinde Freundin hatte für den heutigen Abend meinen Song gelernt und präsentierte ihn mir. Ich wusste gar nicht wohin mit meinen ganzen Gefühlen. Diese Situation überforderte mich einfach komplett. Einen größeren Liebesbeweis gab es einfach nicht und mir fehlten echt die Worte. Was machte diese Frau eigentlich mit mir?

Annalena

Ich musste mich echt zusammenreißen, denn ich spürte Wincents Ergriffenheit. Mir selbst ging es nicht viel besser, denn dieser Song bedeutete mir einfach so unfassbar viel. Ich wusste, dass Wincent ihn nicht für mich geschrieben hatte, denn wir kannten uns zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber jedes Wort passte. Während meiner Vorbereitung hatte ich mir den Song natürlich mehrmals angehört und hatte immer wieder das Gefühl, als würde er mir die ganzen Sachen erzählen. Natürlich kannte ich ihn inzwischen sehr gut, aber dieses öffentliche Eingeständnis beeindruckte mich immer wieder. Der Mann war stark, auch wenn er es selbst manchmal nicht sah. So offen über all seine negativen Erfahrungen und Gedanken zu sprechen, egal ob in Form von Musik oder in Ansprachen bei den Konzerten, zeigte wahre Stärke. Und ‚Auf den Grund' war einfach nur ein weiterer Teil davon. So offen Fragen zu stellen, die niemals jemand aussprach, war krass. Vielleicht bedeutete er mir deshalb so viel. War es nicht genau das, was mich beschäftigte? Stellte ich mir nicht oft genug die Frage, ob ich das alles verdient hatte? Ich war blind, hatte einen einfachen Job und kein großartiges Talent für irgendwas. Und dennoch hatte ich tolle Freunde, war glücklich und vor allem hatte ich Wincent. Er, der im Grunde jede Frau haben konnte, gehörte zu mir. Und vor allem war Wincent immer da, wenn ich ihn brauchte. Ohne ihn würde ich vermutlich kein so schönes Weihnachtsfest feiern.
Als der Song zu Ende war, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Ich blieb einfach sitzen, denn ich musste erst einmal kurz mit den ganzen Emotionen in mir zurechtkommen. Die ich ja, zugegebenermaßen auch noch selbst hervorgerufen hatte. Noch nie war ich auf so eine Idee gekommen, geschweige denn hätte ich den Mut gehabt, es umzusetzen. Offenbar färbte Wincents Hang zu Ungewöhnlichem allmählich ab.
„Hey Anna, komm." Amelie nahm meinen Arm und half mir beim Aufstehen.
Meine Beine waren quasi Wackelpudding, aber sie hielt mich fest und führte mich durch den Raum. Dann drückte sie mich nach unten und ich landete auf der Couch. Dabei streifte mein Arm den von Wincent. Er saß also genau neben mir. Keine Sekunde später wurde ich in starke Arme gezogen und fühlte das schnell klopfende Herz meines Freundes an meiner Wange.
„Ich liebe dich", flüsterte Wincent mir zu und gab mir einen Kuss auf den Kopf.
„Ich liebe dich auch", antwortete ich und kuschelte mich noch enger an ihn.
Ohne dass ich es verhindern konnte, rannen mir einige Tränen über die Wangen. Diese ganzen Emotionen machten mich fertig. Das heute war mit Abstand der schönste Abend im ganzen Jahr gewesen. Dicht gefolgt von ‚Dialog im Dunkeln'. Niemals würde ich das hier vergessen und ich wollte nie wieder ohne Wincent durch mein Leben gehen. Ganz sicher war mein Gesang nicht so gut wie seiner, aber allein die Geste zählte. Und die Nachricht war angekommen. Das zumindest las ich aus seiner Reaktion.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt