Wincent
Ich wartete.
„Anna?", fragte ich dann nochmal nach.
Es kam wieder keine Reaktion. Fritz lief unruhig auf und ab und ich teilte seine Sorge.
Okay, tu es einfach. Das ist eine Ausnahmesituation, sagte ich zu mir selbst und drückte die Türklinke hinunter.
Tatsächlich hatte Anna nicht abgeschlossen und die Badtür öffnete sich. Fritz wollte sofort rein, aber ich hielt ihn zurück. Ja, er war ihr Assistenzhund, aber manchmal war die Anwesenheit eines Menschen besser. Und ich war ja nunmal da.
Ich betrat das Bad und mein Herz setzte einen Moment lang aus. Da saß sie. Auf dem Fußboden. Das Gesicht in den Händen vergraben. Sie schluchzte stumm, doch das Zittern entging mir nicht. Sofort ging ich zu ihr, setzte mich hinter sie und zog sie an meine Brust.
„Shhhh... Es ist alles gut. Ich bin hier", flüsterte ich ihr zu.
Anna drehte sich zu mir um und krallte sich in mein Shirt. Dieser Moment reichte mir, um zu sehen, wie schlecht es ihr wirklich ging. Ich hielt sie einfach eine Weile fest und versuchte, meine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Das war gar nicht so einfach. Ich wollte Anna helfen, aber auf der anderen Seite wusste ich nicht, wie ich das machen sollte. Also tat ich das Einzige, was ich im Moment wusste. Ich hielt sie fest, hoffte, dass sie sich beruhigte und dachte nach, wie ich ihr eine Begegnung mit ihrem Vater ersparen könnte. Sie hätte mich vermutlich umgebracht, wenn ihr Vater sie so sah.
„Schaffst du es, dich alleine fertig zu machen?", fragte ich irgendwann leise. „Ich lass dir Fritz hier und gehe kurz zu deinem Vater."
Sie nickte und versuchte aufzustehen. Ich half ihr und wartete, bis sie sicher stand. Dann überließ ich sie kurzzeitig Fritz' Obhut und ging ins Wohnzimmer zurück. Ihr Vater saß inzwischen auf der Couch und sah sich einen Actionfilm an.
„Und?", fragte er.
„Anna geht ins Bett. Sie ist ziemlich fertig", antwortete ich und das war nicht einmal gelogen.
„Wenn du magst, kannst du noch bleiben und mit mir den Film zu Ende schauen", bot Tim mir an.
„Gerne. Ich schau nur nochmal kurz nach Anna."
„Ganz in Ruhe." Tim lächelte mich an.
Ich ging ins Badezimmer zurück, aber da war sie nicht mehr. Sie lag bereits im Bett, eingekuschelt unter der Bettdecke und Fritz saß aufmerksam daneben.
Ich ging zu ihr, deckte sie nochmal richtig zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Gute Nacht, Maus", sagte ich leise.
„Wincent?"
„Ja?"
„Kannst du hierbleiben? Bitte?"
„Okay", sagte ich und legte mich neben sie aufs Bett.
Anna kuschelte sich direkt an mich und ich legte einen Arm um sie. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr Atem gleichmäßig ging. Der Tag war immerhin sehr aufwühlend gewesen. Als sie ruhig schlief, wollte ich eigentlich nochmal aufstehen, aber sie umklammerte mich so stark, dass ich lieber liegen blieb. Resigniert fischte ich mein Handy und den Autoschlüssel aus der Hosentasche und legte beides auf den Nachttisch. Dann löschte ich das kleine Licht, das noch brannte und drehte mich zu Anna um. Ich liebte das Gefühl, ihr so nah zu sein. Ganz automatisch fielen meine Augen zu, denn auch an mir war der Tag nicht spurlos vorbei gegangen.
Allerdings war ich gerade mal eine Stunde später wieder hellwach. Schlaf konnte ich für die nächsten Stunden vergessen. Anna lag noch immer genauso da wie vorher. Mit Aufstehen war also nichts. Ich beobachtete sie eine ganze Weile, auch wenn nur schwaches Licht durchs Fenster in ihr Zimmer schien.
Dann tastete ich nach meinem Handy und öffnete den Chat mit meinem besten Freund. Ich musste kurz mal einige Gedanken loswerden.
»Moin Bro. Ich brauch mal deinen Rat.«
Zwei Minuten später ploppte die Antwort auf.
»Alter! Hast du mal auf die Uhr geschaut?«
»Sorry, falls ich dich geweckt habe.«
»Ist es wichtig?«, fragte er.
»Naja... «
»Okay, schieß los.«
Marco blieb einfach der beste Freund, den ich mir wünschen konnte.
»Geht es um Anna?«, kam die nächste Frage.
»Ja.«
»Warte, ich muss mich kurz aufsetzen. Dann bin ich ganz Ohr.«
»Könnten lange Texte werden, ich kann keine Sprachnachrichten machen.«
»Hä? Wo bist du denn?«
»Bei Anna und ihrem Vater.«
»Was?! Du verarschst mich.«
»Nein. Ohne Scheiß.«
»Was habe ich in den letzten Stunden verpasst?«
Eine ganze Menge. Und zwar viel, womit ich nie gerechnet hätte.
»Wo soll ich anfangen?«, schrieb ich zurück.
»Kannst du froh sein, dass ich alleine bin.«
»Wieso?« Dann ahnte ich jedoch etwas. »Schreist du oder wird alleine Party gefeiert?«
»Weder noch. Ich hol mir jetzt ein Bier aus dem Kühlschrank und ergänze drei weitere Kreuze im Kalender. Ach und danach werde ich auf diesen Tag anstoßen. Wobei, wenn ich gerade so drüber nachdenke, vielleicht mach ich doch Musik an.«
»Oh je. 😂 So schlimm?«
»Hallo?! Mein bester Freund ist nicht nur endlich wieder verliebt, sondern auch noch bei der Frau, die sein Herz befreit hat.«
»Okay, beruhig dich wieder.«
»Beruhigen?! Machst du Witze? Das ist... mir fehlen echt die Worte. Moment! Sagtest du vorhin, dass du bei ihrem Vater bist.«
»Ja. Ist eine längere Geschichte.«
»Was machst du morgen Abend?«
»Ich hab Dreh. Und dann, keine Ahnung..«
»Dann hast du jetzt etwas vor. Ich komme rüber und wir quatschen bei einem Bier. Haben wir viel zu lange nicht gemacht.«
Da hatte er Recht. Deswegen wollte ich nach den Dreharbeiten hier auch nur kurz nach Berlin und den Rest der Zeit dann Zuhause verbringen. Jetzt allerdings stellte ich meine Pläne in Frage. Vielleicht war es ganz gut, morgen mit Marco zu quatschen. Und das nicht per Facetime.
»Klingt super. Machen wir so«, antwortete ich ihm.
»Perfekt. So, ähm. Wir sind irgendwie vom Thema abgekommen. Du wolltest einen Rat haben. Schieß los. «
Anna bewegte sich ein wenig und ich schaltete kurz das Handy aus. Auf keinen Fall wollte ich sie wecken. Immerhin schien das gerade die einzige Zeit zu sein, wo sie ruhig war und es ihr gut ging. Hoffte ich zumindest.
Nachdem sie sich kurz mal eine bequemere Position gesucht hatte, ohne sich viel von mir zu lösen, wurde es wieder ruhig. Ich sah Anna einfach nur an und konnte nicht glauben, dass die aktuelle Situation Realität war. Marco hatte Recht. Ich hatte ein Betonherz. Und nun lag ich hier, neben einer Frau, die mir super viel bedeutete und das Ganze auch noch in der Wohnung ihres Vaters, der mich zu akzeptieren schien. Womit hatte ich das denn verdient?
Ich versuchte mich einfach an der Situation zu erfreuen und schaltete mein Handy wieder an. Ich las Marcos letzte Nachricht noch einmal und dachte nach. Jetzt hatte ich tatsächlich vergessen, was ich von ihm wollte.

DU LIEST GERADE
Bin ich für sie blind?
Fiksi Penggemar„Sag mir, bin ich für sie blind?" Wincent ist verwirrt. Seit seinem Konzert in Berlin, wo Mats Anna kennengelernt hat, scheint sie ihn regelrecht bei seinen Auftritten zu verfolgen. Das zumindest erfährt er von Mats, denn er selbst bemerkt es gar ni...