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Wincent

„Wie geht's dir?", fragte ich Anna.
„Mehr als gut", strahlte sie.
„Du bist unglaublich." Ich nahm sie fest in den Arm.
„Können wir weiter oder wollt ihr hier Wurzeln schlafen?", unterbrach uns Shay.
„Weiter geht's", kam nun auch Tim dazu und gemeinsam liefen wir zum nächsten Parcour.
Der war schon etwas anspruchsvoller, aber noch gut zu bewältigen. Wir kletterten noch einen und als Anna einmal hängen blieb, war ich umso froher, dass wir das Monitoring hatten. So konnte ich ihr weiterhin sagen, was sie versuchen sollte, während Shayenne sich darauf konzentrierte, zu ihr zu klettern. Meine Schwester half Anna hoch und führte sie durch den restlichen Parcour.
„Danke", sagte Anna zu ihr, als sie sicher auf der Plattform standen.
„Nicht dafür."
„Alles okay bei euch?", wollte ich dennoch wissen.
„Ja", antworteten beide gleichzeitig.
„Weiter?", hakte ich nach und mit der Zustimmung beider kletterte ich wieder vor.
Der Rest verlief dann ohne Probleme und wir erreichten ein Ende nach dem anderen. Zwischendurch legten wir bei Mum und Steffi eine Pause ein, tranken etwas und hielten mit Snacks unseren Blutzucker oben. Es tat so gut, einfach einen ruhigen und entspannten Tag mit meiner Familie zu verbringen. Und dazu gehörten auch Anna, Tim, Steffi und Fritz.
„Winnie?"
„Ja, Schwesterchen?"
„Können wir in diesen einen Parcour, wo es nur Seilbahnen gibt?", jammerte meine kleine Schwester zum dritten Mal.
Bisher hatte ich immer einen anderen Parcour gefunden, mit dem ich sie ablenken konnte. So ganz wohl war mir bei dem Parcour nicht. Es machte wirklich Spaß, aber dort konnten wir Anna nicht helfen. Allerdings wusste ich, dass Shay die Seilbahnen über alles liebte und ich sie nicht länger aufhalten konnte. Also gab ich nach.
„Anna, willst du auch mit?", wandte sich Shay an meine Freundin. „Das ist Adrenalin pur und macht ziemlich viel Spaß."
„Ich weiß nicht", gab Anna ehrlich zu.
„Komm Shay. Der Parcour interessiert mich jetzt", lenkte Tim meine Schwester ab und ich lächelte ihn dankbar an.
Shay konnte nämlich sehr überzeugend sein.
„Ist alles okay bei dir?", fragte ich Anna und sah sie prüfend an.
„Ja. Ich brauch nur kurz eine Pause, aber du kannst gerne mit den anderen beiden klettern."
„Ich lass dich ganz sicher nicht alleine."
„Ich komme klar, Wince. Steffi und Angela sind doch auch da."
„Okay."
„Geh ruhig hoch. Deine Schwester wird dir dankbar sein, wenn ihr das noch zusammen macht", versuchte Anna mich zu überzeugen.
„Warte mal kurz", bat ich, denn über mein Monitoring hörte ich meine Schwester. „Shay, was ist los?"
„Winnie, kannst du... kannst du kommen?"
„Okay, alles gut. Ruhig bleiben", sagte ich.
„Was ist?", wollte Anna wissen.
„Ich glaub, ich muss doch hoch", antwortete ich.
„Dann geh", forderte sie mich auf.
„Bis gleich."
Ich gab ihr noch kurz einen Kuss und lief dann zum Start des Parcours.
„Shay? Wo bist du?", fragte ich unterwegs.
„Auf der ersten Plattform, aber das schwankt alles. Ich weiß nicht, ob ich das kann", gab meine kleine Schwester zu.
„Du schaffst das. Ich komme hoch, warte."
Tim wartete unten an der Leiter und ließ mich zuerst klettern, wofür ich ihm ziemlich dankbar war. Doch er schien genau zu wissen, dass ich Shay am besten helfen konnte. Im Endeffekt redete ich ihr auch nur gut zu und während sie kletterte, ermutigte ich sie weiter. Das Monitoring war echt genial, denn es schonte echt die Stimme, wenn man nicht brüllen musste. Vor allem befanden wir uns inzwischen mindestens zehn Meter über dem Boden. Nach der ersten Seilbahn war die Angst meiner Schwester dann direkt wieder verflogen und wir jagten uns quasi mit Rutschen durch den halben Park.

Annalena

„Kommen die eigentlich auch irgendwann wieder?", fragte Steffi, nachdem wir die Kekse schon alleine aufgegessen hatten.
„Ich glaub nicht", erwiderte Angela.
„Kann ich dann noch einen Müsliriegel haben?", fragte ich grinsend.
„Klar. Hier." Angela legte ihn in meine Hand.
„Danke."
Wir unterhielten uns über die verschiedensten Themen, bis Fritz irgendwann bellte.
„Ich glaub, die Vermissten sind zurück", warf ich in das Gespräch von Angela und Steffi ein.
Ich war irgendwann geistig ausgestiegen, denn mitreden konnte ich nicht. Worum es ging, hatte ich auch bereits wieder vergessen.
„Und? Wie war es?", fragte Angela.
„Mega geil", antwortete Shay.
„Hat ziemlich viel Spaß gemacht, ja", stimmte Wincent seiner Schwester zu.
„Ich brauch jetzt trotzdem ein Sofa", kam es von meinem Vater, was alle in der Runde zum Lachen brachte.
„Was haltet ihr vorher von einem gemeinsamen Abendessen?", schlug Wincent vor.
„Oh ja!", rief Shay begeistert.
„Okay, wohin?", fragte Angela.
„Das Schlossrestaurant in Cuxhaven?", warf mein Vater in den Raum.
Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung und so machten wir uns auf den Weg. Also erst entkabelten wir uns, dann wurden die Gurte abgegeben und auf dem Parkplatz verteilten wir uns dann auf die Autos. Mein Vater fuhr vor und Wincent folgte ihm. Die Musik von Topic wurde laut aufgedreht und es gab sofort Partystimmung im Auto. Der Abend im Restaurant wurde noch lang und für alle, die nicht fahren mussten, auch etwas prozenthaltiger. Dass am nächsten Tag wieder früh aufstehen angesagt war, ignorierten wir geflissentlich.
Wir fuhren recht früh nach Berlin zurück, denn Wincent hatte die nächsten zwei Abende jeweils eine Show in der Schweiz. Normalerweise wäre ich mitgefahren, aber ich musste Montag wieder zur Arbeit und außerdem tat ein wenig Ruhe auch ganz gut. Wincent brachte mich noch zu Lara, bevor er dann aufbrach.
„Und? Wie waren die letzten Tage? Erzähl mal", begann Lara auch gleich ihr Verhör.
War ja klar, dass ich da nicht drum herum kommen würde.
Also erzählte ich von den Konzertabenden, den heimlichen Klavierstunden mit Manu, dem Lesen üben und dann natürlich auch vom Kletterwald. Ich hatte das Gefühl, einen langweiligen Monolog zu führen, aber Lara unterbrach mich immer mal und bombardierte mich mit Fragen. So war meine beste Freundin eben.
„Lara, jetzt Themenwechsel. Was ging bei dir so?", wollte ich dann von ihr wissen.
„Nicht viel. Arbeit halt."
„Und nachmittags? Kein Kerl?"
„Nope. Nur langweilige Nachmittage auf'm Sofa, während meine beste Freundin durch die Gegend getourt ist."
„Och, du Arme."
„Jaja, lach mich nur aus."
„Tu ich ja gar nicht!"

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt