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Wenn der Schnösel auspackt ...
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»Ich bin noch nie ein unkomplizierter Mensch gewesen ...« Joshua seufzte auf und musterte wieder unsere ineinander geschlungenen Hände. Dann streichelte er erneut mit seinem Daumen über meinen Handrücken und hob seinen Blick.

Ich nickte ihm lächelnd zu, um ihm zu zeigen, dass er keine Angst haben musste, sondern ich bereit für alles war, was er zu erzählen hatte.

»Die ersten Probleme zeigten sich im Kindergarten. Immer wieder hatte ich plötzlich auftretende Wutanfälle. Ein Zugang war in diesem Zustand schwer — egal, wer es versuchte. Das Resultat war, dass die Erzieher vollkommen überfordert gewesen sind. Meine Eltern haben deshalb beschlossen, mich wieder aus dem Kindergarten zu nehmen. Sie haben mich zu diversen Ärzten und Kinderpsychologen gebracht. Fortan standen feste Strukturen, Rituale und soziales Training auf meinem täglichen Programm.«

Ein weiteres Mal unterbrach Joshua und löste unsere Hände voneinander. An seinen unruhigen Pupillen konnte ich erkennen, dass es ihm wohl sehr schwer fallen musste, seine Geschichte mit mir zu teilen. Es erinnerte mich daran, wie ich ihm damals die Geschehnisse meiner Vergangenheit anvertraut hatte. Sofort wurde mein Herz schwer und ich griff wieder nach seiner Hand, doch er wich gerade noch so aus, um sich damit kurz über das Gesicht zu streichen. Er war vermutlich aufgeregt und konnte gerade keine Berührungen mehr zulassen ... Das konnte ich verstehen.

»Das hört sich nach einer anstrengenden Kindheit an«, sagte ich verständnisvoll und faltete meine Hände im Schoß, um mich ebenfalls zurückziehen.

»Seit ich denken kann, existierte diese Wut. Mit ihr Leben zu müssen, war anstrengend. Und das ist es nach wie vor. Aber meine Eltern haben sich bemüht, damit es besser wird. Obwohl das alles andere als einfach gewesen ist, denn sie lebten getrennt und meine Mutter war im Begriff, eine neue Familie zu gründen.«

»Puh ... das war sicher nicht einfach für dich«, entgegnete ich und dachte daran, wie klein er gewesen war.

»War es wohl nicht ... Aber wie gesagt, es wurde besser. Zumindest bis ich in die Schule gekommen bin. Dort fehlte mir jeglicher Anschluss und es fiel mir schwer, Freunde zu finden. Ich wurde bald aus verschiedenen Gründen zum Ziel von Hänseleien und somit zum Außenseiter.« Joshua atmete tief durch, ehe er mit gesenktem Blick weitersprach. »Das alles hat dazu geführt, dass sich die Wut immer mehr angestaut hat und irgendwann konnte ich sie nicht mehr unterdrücken. Das Spiel ging von Neuem los und ich habe meine Wut bei anderen entladen. Ich konnte sie nicht kontrollieren und habe regelmäßig meine Aggressionen mit Gewalt kompensiert. Nebenbei sind meine schulischen Leistungen und Motivation in den Keller gerutscht. Vom derzeitigen Spießer fehlte also jegliche Spur.« Beim letzten Satz schaute er mich an und zwinkerte mit dem linken Auge, während sich seine Lippen zu einem schwachen, schiefen Lächeln verzogen.

Ich konnte mir daher den kurzen Lacher nicht verkneifen. »Es fällt mir tatsächlich gerade schwer, meinen Spießer mit deiner früheren Version in Verbindung zu bringen. Aber beides gehört zu dir und macht dich zu dem Menschen, der du heute bist. Den Menschen, den ich trotz ... oder vielleicht genau wegen seiner Macken, so interessant finde, dass ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. Und es bedeutet mir viel, dass du mir das alles erzählst.«

»Das habe ich noch nie jemandem erzählt«, gestand er und schüttelte den Kopf. »Obwohl hiervon einige im familiären Umfeld Bescheid wissen. Aber wer redet schon gerne über seine Probleme beziehungsweise über seine Fehler? Vor allem, wenn sie in diesem Maße drastisch ausfallen.«

»Du musst dich dafür nicht schämen«, schoss es aus mir heraus und ich fixierte ihn mit sanftem Blick.

Doch seine Gesichtszüge verhärteten sich nur. »Dafür schäme ich mich nicht. Aber es gibt eine Menge Dinge, die ich bereue. Und der größte Teil davon kommt erst noch.«

UNAUSWEICHLICHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt