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Wenn Schmerz verbindet ...
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Es erschien mir mehr als fair, einzuwilligen, denn er hatte mir inzwischen wirklich viel Persönliches von sich erzählt. Ein kleiner Teil von mir hatte zwar Angst vor seiner Frage, aber irgendwie wollte ich ihm etwas zurückgeben und ihm zeigen, dass auch ich ihm vertraute. Also nickte ich und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Dein Verlust in der Vergangenheit ... Wie gehst du damit um?«

Warum hatte ich geahnt, dass so etwas kommen würde? Ich stieß die Luft aus und mein Hals wurde trocken. Es war, als würde eine unsichtbare Macht an meine Kehle greifen und zudrücken.

Mach jetzt keinen Rückzieher! Er hat eine ehrliche Antwort verdient!

Ich spürte das warme, prickelnde Gefühl, das immer noch in mir vorherrschte, weil ich Joshua gerade auf einer ganz neuen Ebene näher als je zuvor war. Es zerschoss meine negativen Gedanken und ich schloss die Augen. Einige Male atmete ich ruhig ein und aus und konzentrierte mich darauf, bevor ich zu sprechen begann.

»Inzwischen verdränge ich es nicht mehr. Oder besser gesagt, denke ich, dass ich das gar nicht mehr kann«, sagte ich und begegnete erneut seinem Blick, der von Verständnis gezeichnet war. »Ich habe auch mal eine Therapie gemacht. Da war ich elf. Aber ... es war einfach schrecklich. Mir war die ganze Zeit nur nach Heulen zumute, wenn mich die Bilder aus der Vergangenheit heimgesucht haben — und das haben sie gefühlt ständig. Sie lähmten mich. Ich war nicht fähig, sie in Worte zu fassen. Es war, als ... als wäre ich ein Zuschauer, der in Dauerschleife einen grausamen Film ansehen muss. Als wäre nicht ich es gewesen, der das passiert ist. Und so entfernte ich mich immer weiter von den schrecklichen Bildern in meinem Kopf, bis ich lernte, meine Augen komplett vor ihnen zu verschließen. Das hat vieles geändert ... Ich fühlte mich auf einmal wieder besser. Ich musste nicht mehr weinen. Ich konnte wieder leben. Alles, was dazu nötig war, war alles zu vergessen und hinter mir zu lassen.«

»Aber das hat nicht auf Dauer funktioniert, nehme ich an.«

Ich schüttelte den Kopf und konnte nicht vermeiden, dass mein Blickfeld dabei verschwamm. »In der Nacht, in der du mich auf der Straße gefunden hast, da sind die Erinnerungen einfach über mich hereingebrochen. Plötzlich war alles wieder da. Einfach alles. Es war wie ein 4D-Kinofilm. Ich sah alles. Ich roch alles. Ich schmeckte alles. Ich fühlte alles. Diese Flut riss mich zu Boden. Überforderte mich.«

Mein Körper bebte, doch sein fester Griff um meine Hand gab mir Halt, sodass ich den Mut fand, weiter zu reden.

»Wenn ich ehrlich bin, bin ich immer noch überfordert. Ich schwebe ganz knapp über dem Chaos, das in mir wütet. Und ich habe Angst davor, noch mal zu fallen. Denn dann müsste ich mich diesem Chaos stellen. Viel zu oft habe ich es mir schon vorgenommen, aber ... aber ich habe mich dann doch immer wieder davor gedrückt. Weil ich schwach bin.«

Plötzlich nahm mir Joshua die Mappe ab, legte sie beiseite und zog mich zu sich. Zärtlich umfasste er mein Gesicht mit seinen Händen, strich mit seinen Daumen über meine Wangen, um sie zu trocknen. Seine Nähe und sein Geruch umhüllten mich sofort, ließen mein Herz kräftig schlagen, während in meinem Bauch alles hibbelte. Schmerz, Panik, Glück, Aufregung und Geborgenheit ... Ich hätte nicht gedacht, alles auf einmal fühlen zu können.

»Das sehe ich vollkommen anders. Habe ich dir nicht vorhin gesagt, was mich von Anfang an so an dir fasziniert hat?« Er machte eine Pause, wohl um mir Zeit zum Nachdenken zu geben, aber in meinem Kopf flogen die Gedanken nur wild durcheinander. »Deine Stärke, Elli. Denn du bist mit Abstand die stärkste Frau, die ich kenne. Ich bin mir sicher, dass du alles schaffen kannst, was du dir vornimmst.«

UNAUSWEICHLICHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt