Kapitel 10

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Es war schon weit nach Mitternacht, und in Serenas Wohnzimmer herrschte eine Stille, die nur durch das gelegentliche Heben und Senken von Nathans Brust gebrochen wurde – immer noch in der Gestalt eines gewaltigen, schwarzen Wolfs. Serena saß ihm gegenüber, ihre Stirn in Falten gelegt, während sie ihn mit einem Mix aus Frustration und Ratlosigkeit ansah. Was sollte sie bloß mit einem riesigen Wolfs-Haustier anfangen, das bis zum Morgengrauen nicht in seine menschliche Form zurückkehren würde?

Sie griff schließlich nach ihrem Telefon, entschlossen, Nathans Beta anzurufen – vielleicht wusste der ja, was zu tun war. Nathan, der bis dahin ruhig gelegen hatte, richtete sich bei diesem Vorschlag auf, ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle. Es war offensichtlich, dass ihm die Idee ganz und gar nicht gefiel, doch Serena wählte die Nummer. Sie erreichte nur die Voice-Mail und legte auf. "Vermutlich ist er selbst auf der Jagd.", murmelte sie. 

"Wir könnten immer noch fernsehen?", schlug Serena vor, ihre Stimme von einer aufkommenden Müdigkeit gezeichnet, während der letzte Adrenalinschub der aufregenden Nacht langsam nachließ. Nathan warf ihr einen Blick zu, der irgendwo zwischen Desinteresse und Langeweile lag. Dann, ohne Vorwarnung, stand er auf, seine massige Gestalt erhebend, und schubste sie sanft, aber bestimmt in Richtung des Fensters, das zur Feuertreppe führte.

"Aber du kannst doch jetzt nicht raus", protestierte Serena. "Die Straßen sind voller Menschen."

Doch Nathan, mit einem tiefen Verständnis und einer Entschlossenheit, die nur ein Wesen der Nacht haben konnte, schob sie weiter vorwärts. Mit einem sanften Stups seiner Schnauze, einer Geste, die keine Widerrede duldete, führte er sie zur Feuertreppe. Widerstrebend folgte sie ihm. 

Oben angekommen, empfing sie die Weite des Daches – eine fast leere Fläche, gesäumt von ein paar verlassenen Terrassenstühlen, die Zeugen vergangener Sommerabende waren. Das Dach selbst war eher praktisch als einladend gestaltet, ein ungeschmückte Fläche über der Stadt.

Nathan atmete tief die frische Nachtluft ein und richtete seinen Blick auf den Mond, der in dieser Nacht besonders prächtig am Himmel stand. Serena trat zu ihm, ihre Augen ebenfalls zum Himmel erhoben, verloren in der Schönheit des Mondes.

Mit einer fast königlichen Gelassenheit machte Nathan es sich in der Mitte des Daches bequem, rollte sich zusammen und schuf so eine Einladung ohne Worte für Serena, sich ihm anzuschließen. Zögerlich nahm sie seinen stummen Vorschlag an, setzte sich in die geschützte Mulde zwischen seinen Vorder- und Hinterbeinen und lehnte sich an seinen warmen Bauch. Umhüllt von seinem dichten Fell, fühlte sie eine unerwartete Geborgenheit, als ihre Augen den Himmel absuchten. "Ich war hier noch nie zum Vollmond.", gestand sie.

Trotz der Stadtbeleuchtung, die den Großteil der Sterne zu verschlucken drohte, entdeckte sie einige, die stark genug waren, ihr Licht durch den Schleier der Zivilisation zu brechen.

Und dann, eingehüllt in die Wärme von Nathans Fell, dem sanften Rhythmus seines Atems lauschend und unter dem wachsamen Blick des Mondes, fand Serena Schlaf. In dieser ungewöhnlichen Ruhestätte, umgeben von der Stille der Nacht und der Weite des Himmels, driftete sie in einen tiefen Schlummer.


Als Nathan erwachte, fühlte er sich, als hätte ihn ein Lastwagen erwischt. Jeder Muskel, jede Faser seines Körpers schien vor Schmerz zu schreien. Er war schon so lang kein Wolf gewesen, dass sein Körper die letzte Verwandlung erst einmal verarbeiten musste. Irgendjemand – ziemlich wahrscheinlich Serena – hatte eine Decke über ihn gelegt und ein Kissen unter seinen Kopf geschoben. 

Erinnerungen an die letzte Nacht flackerten durch seinen Geist. Er konnte sich noch dunkel daran erinnern, wie er Serena sanft auf seinen Rücken geschoben und sie schlafend wieder zurück in die Wohnung getragen hatte. Er hatte sie vorsichtig auf das Sofa gerollt und sich dann, erschöpft von der Verwandlung, selbst auf den Boden vor dem Sofa niedergelassen. "Wie ein Haustier", dachte er mit einem Anflug von Schock. Diese Erfahrung war ihm völlig fremd. Was zur Hölle war los mit ihm? Was hatte seine unerwartete Verwandlung ausgelöst? Sein Wolf hatte ihn nicht dazu gedrängt; im Gegenteil, er schien zufrieden gewesen zu sein, einfach nur in Serenas Wohnung zu sein, umgeben von ihrer Gegenwart. Also musste ein äußerer Einfluss die Verwandlung ausgelöst haben. Er konnte sich nur nicht denken, was es sein könnte... Er war wütend auf seinen Wolf und auf sich, weil er das mit sich hatte machen lassen.

Rising Omega: Die Versuchung des AlphaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt